Kann Sprachenlernen und Sprachunterricht
dazu beitragen, einen sinnvolleren Umgang mit Fremden und dem
Fremden zu fördern? Bezieht man diese Frage nur auf die
Sprache, die jemand lernt, steht das wohl außer Zweifel.
Kann Sprachenlernen aber auch über die Kultur hinaus,
in der die gelernte Sprache gesprochen wird, einen Beitrag in
die angesprochene Richtung leisten? Die folgenden Ausführungen
behandeln diese Frage und versuchen zu zeigen, daß dies
möglich erscheint.
Um dies zu belegen, schien es erforderlich zu zeigen, welche
Mechanismen der Sprache und des Denkens dabei eine Rolle spielen.
Dabei wird eine von der üblichen in weiten Bereichen abweichende
Darstellung einschlägiger Lernmechanismen und der Bedeutung
von Wörtern entwickelt.
Im ersten Teil gehe ich dabei von verschiedenen Kontexten
aus, in denen Lernen stattfindet, und greife jeweils einige wenige
Aspekte heraus, die überdies meist überzeichnet dargestellt
werden. Danach stelle ich einige Überlegungen zu den Vorstellungen
Muster und Alternativen an und lege dar, wie man
meiner Meinung nach das denken sollte, was wir die Bedeutung
von Wörtern nennen.
Anschließend befasse ich mich mit Mechanismen in Sprache
und Denken, die wesentlich zu dem beitragen, was uns im Umgang
mit Fremden Sorgen macht, weise darauf hin, daß einige
davon auf speziellen Denkoperationen beruhen, die in den Denkweisen
unserer Kultur verankert sind und keineswegs nur die Problematik
des Umgangs mit Fremdem betreffen, und weise nach, daß
sich hier grundlegende Denkfehler eingeschlichen, verfestigt
und über viele Jahrhunderte gehalten haben.
Im dritten Teil geht es um die Kulturgebundenheit von Sprache
und Denken, die Spezifizität ihrer Denkmuster und die Auswirkungen
ihres Erwerbs beim Sprachenlernen. In abschließenden Bemerkungen
fasse ich das Potential des Sprachenlernens für den Umgang
mit Fremdem zusammen, weise auf seine Grenzen hin und fordere
zur Teilnahme an einem Prozeß auf, der dazu führen
soll, daß das vorhandene Potential des Sprachenlernens
für eine Verbesserung des Umgangs mit Fremdem besser genützt
wird.
1. KONTEXTE DES SPRACHENLERNENS UND
EINIGE FOLGEN
Sprachenlernen findet in verschiedenen
Kontexten statt. Ich greife dabei aus den vielfältigen Gegebenheiten,
in denen man lernt, folgende heraus: das Lernen in der Lebenswelt
mit ihrer ungeheuren Vielfalt, das Lernen in reduzierten Welten,
wie z.B. jener der Klassenzimmer und Kursräume, und das
Lernen bei fast ausschließlicher Konzentration auf Sprache,
das Lernen durch Lesen.
1.1. ZUM ERWERB DER ERSTSPRACHE IN DER VIELFALT DER LEBENSWELT
Ein Kind lernt Sprache in seiner Lebenswelt. Es ist ein Lernen,
bei dem alle Sinne des Kindes ebenso wie seine Emotionen - wenn
auch in verschiedenen Kombinationen und in verschiedenen Intensitäten
- involviert sind.
Ein Kind lernt die Sprache von den Menschen seiner Umgebung,
von den Menschen, die sich um es kümmern, von den Menschen,
mit denen es zu tun hat, und von den Menschen, die einfach da
sind. Das Lernen einer Sprache ist also ein sozialer Vorgang.
Zum Lernen und Segmentieren von Lautmustern der Sprache
Lange Zeit hören kleine Kinder andere Leute sprechen,
ohne selbst schon zu sprechen.2
Aus den vielen Lautabfolgen, die es hört, verdichten
sich langsam ähnliche Lautsequenzen, die in vielerlei -
ähnlichen und verschiedenen - Situationen als Lautabfolgen
aufgenommen werden. Was an solchen Tonfolgen ähnlich ist,
verdichtet sich durch die Häufigkeit, mit der Kinder verschiedene
Ausdrücke hören. Diese kürzeren oder längeren
Lautabfolgen prägen sich ein.
Im Lautfluß gibt es kürzere und längere Pausen,
Brüche im Fluß. Sie drängen sich auf. Die ersten
Gliederungen sind entstanden.
Dort, wo keine deutlichen Unterbrechungen auftreten, wirken
sich die stärker verdichteten Fließmuster aus. In
ununterbrochenen Sequenzen folgt ein verdichtetes Muster auf
andere, ebenso verdichtete Muster. Einem Muster folgen manchmal
die gleichen, manchmal andere Muster. An Stellen im Lautfluß,
wo einem Muster einmal dies, einmal jenes Muster folgt, entsteht
eine andere Art von Brüchen. Es entstehen Stücke, Stücke
aus Sequenzen, Stücke verschiedener Länge, und damit
die zweite Art von Gliederungen des Lautflusses. Das Kind erfährt
so den Fluß der Rede nach einiger Zeit als segmentiert,
die verdichteten Stücke des Flusses werden zu trennbaren,
wenn auch nicht getrennten Lautmustern.
Vieles wird Kindern aber auch gezielt beigebracht. Wenn das
Kind fragt >Was ist das ?< oder Erwachsene dem Kind
etwas beibringen wollen, werden dabei häufig Formeln wie
>Das ist ein ... !< verwendet. Sowohl die Formel
als auch das Lautmuster, das folgt - und auch anders betont wird
-, werden dabei zu Stücken im Fluß. Schon nachdem
ein Kind die Formel >Das ist ein< einige Male gehört
hat, haben sich diese Erfahrungen des Kindes verdichtet und sind
damit zu einem Stück geworden. Das darauf folgende neue
Lautmuster wird daher schon - auch wenn oft gar keine auffallende
Unterbrechung des Lautflusses vorliegt - sozusagen >präsegmentiert<
gelernt.
Das Erlernen von Lautmustern und des Segmentierens der Lautabfolgen
ist aber nur eine Seite der gezielten Unterweisung in der Verwendung
der Wörter in der vielfältigen Lebenswelt.
Bedeutungen und ihre Entstehung
Das Wort >Bedeutung< verwenden wir nicht nur für
Wörter. Damit spiele ich nicht auf den Wortsinn >wichtig<
an, der uns hier nicht betrifft. Auch Ereignisse und Gegenstände
können für uns diese oder jene Bedeutung haben. Bedeutungen
sind also nicht der Sprache spezifisch.
Bedeutungen sind Vorstellungen, die wir mit anderen Vorstellungen
verbinden.
Meist sind Bedeutungen Vorstellungen von anderer Art als jene,
mit denen wir sie verbinden. Bei Gegenständen sind es z.B.
Vorstellungen von Personen, die diese Gegenstände einst
besessen haben, oder von Anlässen, bei denen sie in unseren
Besitz gekommen sind. Bei einem Wort ist es meist nicht die Vorstellung
eines anderen sprachlichen Lautmusters, sondern die Vorstellung
dessen, was uns in den Sinn kommt, wenn wir es hören, oder
die Vorstellung, die uns dazu bringt, das Wort auszusprechen.
Bedeutungen sind oft verdichtete Spuren von Erfahrungen, die
wir handelnd, fühlend, denkend oder als Ergebnis der Aufnahme
über unsere Sinne gemacht haben.
Soweit es sich um Erfahrungen mit Gegenständen in der
Lebenswelt handelt, entstehen Bedeutungen aus der Verarbeitung
dessen, was Lernende mit Hilfe ihrer Sinne aus den durch ihre
Aufmerksamkeit hervorgehobenen Teilfeldern ihrer gegenständlichen
Umgebung aufnehmen. Da sich das, was aufgenommen wird, durch
die eigene Bewegung der Lernenden und, bei manchem Betrachteten,
auch durch dessen Bewegungen unablässig ändert, und
es sich bei seiner Verarbeitung um Abläufe handelt, sind
Bedeutungen - ebenso wie Erfahrungen und insbesondere auch Lautmuster
- Ablaufmuster.
Zu dem, was wir aus der gegenständlichen Welt aufnehmen,
gehört aber nicht nur Information über Gegenständliches,
sondern auch, wie sich das, was wir als Gegenständliches
interpretieren, zueinander verhält und aufeinander folgt.
Dazu gehört unter anderem, ob etwas mit etwas anderem gemeinsam
auftritt, ob sich eines nach Veränderung eines anderen ebenfalls
verändert und wie, ob nach dem Auftreten von etwas auch
etwas anderes auftritt und was sowie ob solche Erfahrungen häufig
oder selten sind.3
Die meisten Erfahrungen eignen sich dazu, Bedeutungen von
Wörtern zu werden. Diese prinzipielle Eignung reicht aber
nicht aus, Erfahrungen tatsächlich zu Bedeutungen von Wörtern
werden zu lassen. Erfahrungen werden zur Bedeutung von Wörtern
erst, wenn mehrere Menschen derselben Gruppe ein Wort mit Vorstellungen,
die solchen Erfahrungen entsprechen, in Verbindung bringen.
Eine Erfahrung kann daher - mit Ausnahme der erstmaligen Verwendung
eines Wortes - nicht mit einem ausschließlich für
eben diese Erfahrung geschaffenen Wort verbunden werden. Es gehört
zu den Struktureigentümlichkeiten von Wörtern, daß
sie mit einer Vielzahl von Erfahrungen verbunden sind, daß
sie also eine Vielzahl von Bedeutungen haben. Das ist schon beim
einzelnen Individuum so, was daraus hervorgeht, daß Erfahrungen
Ablaufmuster sind, die ihrer Natur nach nie identisch sein können.
Dadurch, daß ein Wort nur dann als ein Wort einer Sprache
fungieren kann, wenn mehrere Menschen es verstehen und verwenden,
steigert sich die Zahl der Bedeutungen weiter.
Das, was wir die Bedeutung eines Wortes nennen, ist also eine
Sammelbezeichnung. Um dies hervorzuheben, verwende ich daher
die Bezeichnung >Bedeutungsmuster eines Wortes<.4
Zum Lernen von Bedeutungsmustern der Sprache
Die drei Komponenten eines Wortes
Beim Lernen der Wörter der Sprache müssen zusätzlich
zu den Lautmustern auch die mit den Lautmustern der jeweiligen
Sprache verbundenen Bedeutungsmuster gelernt werden.
Ein Wort besteht aber - analytisch betrachtet - nicht nur
aus zwei Komponenten, dem Lautmuster und dem Bedeutungsmuster,
sondern aus drei Komponenten, dem Lautmuster, den Bedeutungen
und den Verbindungen zwischen ihnen.
Wenn wir den Ausdruck >Wort< verwenden, meinen wir meist
das Gebilde aus allen drei Komponenten, seltener, aber im Sprachunterricht
ebenfalls häufig, meinen wir das Lautmuster allein. Doch
auch wenn wir das Lautmuster allein meinen, gehen wir von der
stillschweigenden Annahme aus, daß dieses Lautmuster Bedeutung
hat. Sonst wäre es kein Wort, sondern ein Geräusch.
Wenn wir sagen: >ein Wort hat diese oder jene Bedeutung<,
behaupten wir, daß zwischen dem Lautmuster des Wortes und
bestimmten anderen Vorstellungen eine Verbindung besteht.
Jede dieser drei Komponenten - Lautmuster, Bedeutungen und
die Verbindungen zwischen ihnen - muß gelernt werden. Daß
die drei Komponenten in einigen Arten von Situationen in einem
einzigen verbundenen Prozeß gelernt werden, ändert
nichts daran, daß jede einzelne der drei Komponenten gelernt
werden muß.
Diese drei Komponenten können gemeinsam, jede kann aber
auch für sich, also getrennt, gelernt werden. Lautmuster
können für sich alleine gelernt werden; Bedeutungen
werden häufig schlicht als Erfahrungen erworben; die Verbindung
zwischen Lautmuster und Erfahrungen, die letztere erst zu einer
Bedeutung eines Wortes macht, setzt zwar Lautmuster und Erfahrung
voraus, ihre Verbindung zu einem bedeutungstragenden Wort kann
aber ebenfalls getrennt gelernt werden.
Zum Entstehen der Verbindungen zwischen Lautmuster und
Bedeutungen
Schränkt man nun die Betrachtung auf die Bedeutungsmuster
eines Wortes ein, ist festzuhalten, daß diese aus Bedeutungen,
aus deren Verbindung mit dem Lautmuster sowie aus vielfältigen
Übergängen und Verknüpfungen zwischen den Bedeutungen
bestehen.
Wenn man ein neues Wortes hört, macht man die Erfahrung
eines Lautmusters. Ein Lautmuster hat keine Bedeutung, es ist
ein Lautmuster, und sonst nichts.
Menschen machen aber nie nur eine Erfahrung auf einmal. Mit
anderen Worten: Eine Erfahrung ist immer zusammengesetzt, was
darauf beruht, daß wir gleichzeitig viele Inputs empfangen,
daß unsere Sinnesorgane aus einer Vielzahl von Rezeptoren
bestehen und in jedem Verarbeitungsvorgang Spuren früherer
Erfahrungen aktiviert werden. Ein bedeutungstragendes Wort entsteht
erst durch die Verbindung von Lautmuster und anderen Erfahrungen.
Beim >hinweisenden Lehren der Wörter<5
in der Lebenswelt der Kinder betonen Erwachsene nicht nur das
jeweilige Wort und sprechen es besonders deutlich aus, sie weisen
dabei meist gleichzeitig deutlich auf etwas hin. Durch dieses
- in solchen Fällen von den Kindern relativ leicht nachvollziehbare
- Hinweisen auf das, was mit dem Lautmuster des zu vermittelten
Wortes gemeint ist, entsteht eine Verbindung der Vorstellung
des Lautmusters mit der Vorstellung dessen, worauf (vermutlich)
hingewiesen wurde.
Die Vorstellung, daß zwischen dem hervorgehobenen Lautmuster
und etwas bestimmtem anderen eine Verbindung besteht, entsteht
also - beim Lernen von Wörtern in der Lebenswelt - durch
mehrere, fast gleichzeitige Erfahrungen,6
der des gehörten Lautmusters, der Zurkenntnisnahme des (im
engeren Sinne des Wortes Sprache) nichtsprachlichen Hinweisens,
der Gesten des Zeigens und des Erfahrens des Gezeigten. Die Rolle,
die bereits bekannte Wörter bei dieser Art des Lernens spielen,
vermehrt die Zahl der angesprochenen fast gleichzeitigen Erfahrungen
um die Spuren früherer beim nie endenden Lernen der Sprache
gemachten Erfahrungen.
Zum Entstehen der Bedeutungsmuster der Wörter
Wie entstehen nun jene Muster, die wir die Bedeutung eines
Wortes nennen ?
Beim hinweisenden Lehren von Wörtern entstehen Bedeutungen
aus der Verarbeitung dessen, was Lernende - den Hinweisen folgend
- mit Hilfe ihrer Sinne aus den durch ihre Aufmerksamkeit hervorgehobenen
Teilfeldern ihrer gegenständlichen Umgebung aufnehmen.
Ein großer Teil der Erstbedeutungen von Wörtern,
die Gegenstände oder Lebewesen bezeichnen, entstehen im
Kinde auf diese Art. Die Einführung des Terminus >Erstbedeutung
eines Wortes< - der ersten durch einen Lernenden erworbenen
Bedeutung eines Wortes - dient hier vor allem dazu hervorzuheben,
daß sich die Bedeutungsmuster, die wir mit einem Wort verbinden,
langsam aufbauen und im Laufe des Lebens ändern. Bedeutungsmuster
von Wörtern werden nicht durch einen einmaligen Vorgang
sondern durch Iteration, also Schritt für Schritt, Gelegenheit
um Gelegenheit, erworben.
Hat man ein Wort bereits zur Verfügung, lernt man viel
von dem, was dieses Wort bedeutet, ohne weiteres Zutun anderer
Menschen. Suchen wir in unserem Umfeld nach dem, was mit dem
gehörten Wort wahrscheinlich gemeint war, bringen wir immer
wieder andere Vorstellungen mit dem Wort - mit dem hörend
aufgerufenen verdichteten Lautmuster - in Verbindung. Zusätzliche
Vorstellungen verbinden sich dabei mit dem Wort, werden zu Teilen
seines Bedeutungsmusters. Ähnlich funktioniert dies beim
Denken eines Wortes - seiner schalllos bewußtgewordenen
Version. Auch hier werden zusätzliche Vorstellungen mit
dem Worte verknüpft.
Aber es gibt auch den umgekehrten Weg. Man hat Erfahrungen
mit mehreren Phänomenen gemacht, die man als irgendwie zusammengehörig
empfindet, hat aber noch kein Wort, mit dem sie zusammenfassend
bezeichnet werden. Lernt man ein solches Wort kennen, werden
diese früheren Erfahrungen mit dem Wort in Verbindung gebracht.
Ein Beispiel: Man hat z.B. Vögel einer bestimmten Art schon
oft gesehen, sie zwitschern gehört, kennt die Form ihres
Fluges, weiß aber nicht, wie sie genannt werden. Lernt
man die Bezeichnung, werden die früheren Erfahrungen wie
selbstverständlich zu einem Teil der Bedeutung des Namens
der Vogelart.
Zur Verknüpfung und Verflechtung von Bedeutungen zu
Bedeutungsmustern
Bedeutungsmuster von Wörtern entstehen nicht nur dadurch,
daß viele einzelne Erfahrungen mit dem jeweiligen Lautmuster
verknüpft werden, sondern auch dadurch, daß zwischen
den auf diese Weise entstandenen Bedeutungen eines Wortes vielfältige
Verbindungen entstehen.
Ein Teil der Verknüpfungen von Bedeutungen entsteht unabhängig
davon, ob diese mit demselben Wort verbunden worden sind, also
auch ohne daß sie >Bedeutungen< eines Wortes sind.
Sie entstehen einfach dadurch, daß die jeweiligen Erfahrungen
durch gemeinsame Kontexte verbunden sind oder daß aufgrund
von Ähnlichkeiten von Aspekten oder Kontexten Übergänge
- und damit Verknüpfungen - zwischen ihnen entstehen.
Andere Verbindungen zwischen Bedeutungen eines Wortes entstehen
nur deshalb, weil sie Bedeutungen desselben Wortes sind, weil
Menschen sie sprachhandelnd oder denkend mit diesem Wort in Verbindung
gebracht haben und sich diese Verknüpfung innerhalb der
Sprachgruppe verbreitet hat.
Erfahrungen, die - ohne daß mit demselben Wort auf sie
angespielt wird - miteinander verbunden werden, können durch
die Macht (der Einübung) der Sprache aber auch geteilt werden,
und zwar so geteilt werden, daß sie als etwas anderes und
damit als nicht zusammengehörig eingestuft werden. Als Beispiele
dafür mögen zwei Gruppen von Wörtern dienen, die
ich in diesem Text vielfach verwendet habe, wie die beiden Ausdrücke
>Lernen< und >Erfahrungen machen< oder die Wörter
>Gelerntes<, >Erfahrung< und >Bedeutung<, jeweils
Gruppen von Ausdrücken, denen im Leben der Menschen weitgehend
gleiche Gruppen von Abläufen entsprechen.
Zur Stereotypisierung von Sprache und Vorstellungsmustern
in der Lebenswelt
In der Alltagswelt der Kinder wird ihr Sprachgebrauch stereotypisiert
ohne vereinheitlicht zu werden.
Wenn Kinder etwas sagen wollen und der Ausdruck wird von ihren
Gesprächspartnern nicht verstanden, versuchen die Kinder
es oft auf andere Weise. Wenn sie eine Aussage machen, in der
für die Gesprächspartner etwas nicht zusammenpaßt,
wird rückgefragt und korrigiert. Auf diese und andere Weisen
wird der Sprachgebrauch der Kindern dem der Erwachsenen Gesprächspartner
angenähert.
Da der Sprachgebrauch verschiedener Gruppen innerhalb derselben
Sprachgemeinschaft voneinander teilweise abweicht, baut das Kind
auf diese Weise seine persönlichen Versionen mehrerer Sprachregister
auf, insbesondere des Sprachregisters seiner Familie, des Sprachregisters
der Kinder, mit denen es spielt, sowie seine Version des die
beiden anderen in weiten Bereichen überlappenden Registers
der Ortssprache.
1.2. ZUM LERNEN IM KLASSENZIMMER
In diesem Abschnitt werde ich nur ganze wenige Aspekte herausgreifen,
die einen Beitrag zur Gesamtargumentation leisten können.
Viel von dem, was Kinder in der Schule lernen, basiert
auf dem, was die Kinder schon wissen
Viel von dem, was in der Schule gelernt wird, basiert auf
dem, was Kinder - mehr oder weniger vage, mehr oder weniger klar
- in ihrer Lebenswelt schon gelernt haben, was sie schon wissen
und können.
Ein Kind hat, wenn es in die Schule kommt, schon große
Teile der Familien-, der Kinder- und Ortssprache, ihrer Laut-
und Bedeutungsmuster gelernt und viele Erfahrungen in seiner
Lebenswelt gemacht. Dieses Wissen und Können wird beim Unterricht
eingesetzt.
Beim Schreibenlernen z.B. werden die Buchstaben den Kindern
oft mit Hilfe von Bildern von Birnen und Äpfeln, von Vögeln
und anderen Tieren beigebracht, mit Bildern also, die meist Gegenstände
und Lebewesen abbilden, die sie schon kennen und für die
sie schon Worte haben. Doch auch hier werden Abbildungen von
Tieren verwendet, die sie, wenn überhaupt, wiederum nur
von Abbildungen kennen.
Auch die deutlichere Unterscheidung von Lauten wird ihnen
mit Hilfe solcher Bilder und der Wörter, mit denen sie die
abgebildeten Gegenstände bezeichnen, mit Hilfe der Lautmuster
also, die sie ebenfalls schon kennen, beigebracht und ihre Anwendung
beim Sprechen stereotypisiert.
Mit anderen Worten: Ob es möglich ist, Kindern in der
Schule vieles zu vermitteln, hängt davon ab, wie umfangreich
ihr vorhandener Vorstellungs- und Wortschatz bereits ist. Dieser
vorhandene Wortschatz wird kräftig ausgeweitet, es werden
zusätzliche Verbindungen zwischen schon vorhandenen und
neuen Wörtern aufgebaut und die eine oder andere bestehende
Verbindung korrigiert.
Lernen in einem reduzierten Lernkontext
Schulen, wie sie in unserer Kultur entwickelt wurden, sind
- gegenüber dem Lernen in der Lebenswelt - reduzierte, verarmte
Lernkontexte.
Beim Lernen in unseren Schulen dominiert das Wort. Daneben
wird eine eher begrenzte Zahl von Gegenständen und eine
größere Zahl von Abbildungen eingesetzt. Andere als
Denkabläufe werden als weniger wichtig als diese eingestuft
und soweit möglich eingeschränkt. Lernen durch Handeln
ist auf wenige Bereiche außerhalb des Schreibens und Rechnens
eingeschränkt. Die Möglichkeit, über alle Sinne
zu lernen, ist in unseren Schulen kaum vorhanden, Lernen über
mehrere Sinne ist sehr stark eingeschränkt.
Was in der Schule gelernt wird, wird überwiegend virtuell
gelernt
Damit wird gleichzeitig die Möglichkeit, vielfältige
Erfahrungen zu machen, weitgehend beschnitten. Daraus folgt,
daß vieles von dem, was Kinder bei uns in Schulen lernen,
virtuell gelernt wird: Fast alles, von dem gesprochen wird, ist
dabei über die Sinne der Lernenden nicht erfahrbar, da Eindrücke
von der Welt, die im selben Verlauf direkt in die Bedeutungsbildung
eingehen könnten, fehlen.
Die Entstehung der Bedeutungsmuster der Wörter wird (in
Bereichen, über die gesprochen wird) einerseits den kaum
vorhandenen oder doch relativ mageren Spuren aus ihrer Welterfahrung
und andererseits der Vorstellungsproduktion durch die Lernenden
überlassen.
Eine Ähnlichkeit mit der virtuellen Welt der Märchen
und der Vorgänge mit jenen des Märchenerzählens
drängt sich auf. Ein Unterschied wird ganz deutlich: im
Gegensatz zum Märchenerzählen wird beim Schulunterricht
wieder und wieder - explizit und implizit - darauf verwiesen,
daß das, was in der Schule vermittelt wird, der Realität
der Welt entspricht. Die Notwendigkeit, immer wieder auf >Non
scolae, sed vitae< zu verweisen, bestünde nicht,
wenn die Erfahrungen, die zu Bedeutungen werden, aus der Welterfahrung
der Lernenden stammen würden: Es wäre unnötig,
dies zu betonen, es wäre von selbst evident.
In der Schule geht es also weitgehend um den Erwerb von Wissen
über Dinge, die man nicht kennt und nicht kennenlernt, und
um die Entwicklung von Fertigkeiten, mit solchem Wissen umzugehen.
Standardisierung ergänzt die Stereotypisierung der
Sprache
In der Schule wird Sprache geübt und ihre Verwendung
durch die Kinder korrigiert, der Gebrauch der Sprache durch die
Kinder wird systematisiert, die Sprache systemisiert; es wird
wieder und wieder wiederholt, einzeln geübt und memoriert.
Die Stereotypisierung des Sprachgebrauchs wird fortgesetzt:
durch das Hören, durch eigenes Sprechen sowie durch Korrektur
von beidem.
Neu hinzu kommt etwas, das man die Standardisierung der Sprache
nennen kann. Während Stereotypisierung überwiegend
mittels Korrekturen von Einzelfällen einerseits und mittels
selbsttätiger Suche nach Ausdrücken, die von anderen
merkbar akzeptiert werden, erzielt wird, tritt jetzt das an ihre
Seite, was wir (allgemeine) >Regeln< nennen. Regeln werden
als eigenständiges virtuelles Wissensgut vermittelt. Darüber
hinaus wird auch immer dann, wenn Korrekturen angebracht werden
- als eine Art Anhängsel der Korrektur - neuerlich auf die
betreffende Regel verwiesen. Damit wird der Eindruck erweckt
und festgeschrieben, daß Regeln - und nicht die Erfahrung
der tatsächlich befolgten Sprachpraxis im Leben der Gruppe
- die Sprache konstituieren und den Sprachgebrauch leiten.
Zum Lernen mit Hilfe von Abbildungen
Eine spezielle Form virtuellen Lernens ist das Lernen mit
Hilfe stark vereinfachter Zeichnungen und anderer Abbildungen.7
Im Lernkontext Schule ist diese Art des Lernens sehr wichtig,
da in Schulen relativ häufig Abbildungen stellvertretend
für das Abgebildete als Lehrmittel zum Einsatz kommen. Bei
vielen dieser Abbildungen handelt es sich um schematische Zeichnungen,
die aus relativ wenigen Strichen bestehen, von denen viele Konturen
wiedergeben. Solche Abbildungen unterscheiden sich von visuellen
Erfahrungen in der Lebenswelt unter anderem dadurch, daß
sie keine Bewegung, kein Detail und keine Raumtiefe aufweisen,
daß sie keinen Hintergrund haben und der Kontext des Abgebildeten
nicht vorkommt. Sie schweben wie schwerelose Gegenstände
beziehungslos im Raum.
Eine Erfahrungswelt, die stark von solchen Abbildungen mitgeprägt
wird, unterscheidet sich beträchtlich von einer, in der
Erfahrungen aus der Lebenswelt dominieren.
Zum Ersatz fehlender einschlägiger Welterfahrung beim
Lernen in der Schule
Bezieht man die Abwesenheit der Dinge, über die unterrichtet
wird, und den Mangel an Welterfahrung der Lernenden mit den Teilwelten,
in denen diese Dinge vorkommen, in die Überlegungen über
die Entstehung von Bedeutungen von Wörtern im Schulunterricht
ein, ergibt sich zwingend, daß diese fehlenden einschlägigen
Erfahrungen und Erfahrungsmöglichkeiten beim Lernen durch
irgend etwas anderes ersetzt werden müssen.
Was steht als Ersatz zur Verfügung ?
Will man etwas ersetzen, das man nicht hat, muß man
mit dem auskommen, was einem zur Verfügung steht und dem,
was sich mit dessen Hilfe schaffen läßt.
Was also steht den Lernenden - und deshalb auch den Lehrenden
- zu nutzbringendem Einsatz zur Verfügung ?
Auf der einen Seite stehen die jeweilige Welterfahrung und
die bereits erworbenen Sprachkenntnisse, auf der anderen Seite
die Kombinations- und Rekombinationsfähigkeit der Lernenden,
also ihre Phantasie, zur Verfügung.
Mangels der Möglichkeit eines Erfahrungserwerbs mittels
einschlägiger Sinneserfahrungen in der Lebenswelt, die kontrollfähig
in den schulischen Erfahrungserwerb hineinragen würden,8 können die Ergebnisse nur Phantasiegebilde,
also Rekombinationen von Teilen der Welt- und Denkerfahrung sein.
Zur Wahl und Entwicklung von Ersatzkomponenten
Es geht also darum, in den bereits vorhandenen Erfahrungssammlungen
der Lernenden Komponenten zu finden, die sich für Rekombinationen
eignen, mit denen das zu vermittelnde Wissen von und in den Lernenden
aufgebaut werden kann. Neben dieses Kriterium, das die Eignung
von Komponenten betrifft, treten Kriterien für die Rekombinationen:
geeignet erscheint in der Schule nur, was sich sowohl dafür
eignet, vieles in kurzer Zeit zu vermitteln, als auch möglichst
dauerhafte Ergebnisse zeitigt.
Aus diesen Kriterien folgt, daß solche Komponenten der
vorhandenen Welterfahrung gewählt werden müssen, die
möglichst alle Lernenden in sehr ähnlicher Weise verfügbar
haben. Nun kann man sich darauf, daß die komplexeren Erfahrungen,
die Lernende in der Lebenswelt gemacht haben, einander ausreichend
ähnlich sind, nicht verlassen - da jeder Mensch andere Erfahrungen
hat und sie es daher wirklich nicht sein können. Daher werden
möglichst einfache Komponenten aus dem Erfahrungsschatz
genommen und zusätzliche möglichst einfache Erfahrungskomponenten
ent wickelt.
Zu den hier relevanten einfachen Erfahrungskomponenten, welche
die Lernenden bereits mitbringen, gehören die Erfahrung
von sich im Zeitablauf nicht verändernden Gegenständen,
die visuelle Erfahrung von Konturen, die Erfahrung von Konflikten
zwischen zwei sich um dasselbe streitenden Personen oder Gruppen,
u.a.m.
Unter den neugeschaffenen einfachen Erfahrungskomponenten,
die durch die Schaffung bzw. Vorlage und ihre Einübung in
der Gruppe zu Komponenten sozioindividueller Erfahrung werden,
findet man z.B. die gerade Linie (mit ihrer über jede darauf
erreichte Stelle hinaus verlängerbaren geraden Fortsetzung),
gleichbleibende Konturen, rechte Winkel, den ausdehnungslosen
Punkt etc.
Zu den Auswirkungen häufig vorkommender Rekombinationen
Zwischen der Verwendung vorhandener und der Schaffung neuer
Komponenten gibt es ungezählte Übergänge, die
nicht scharf getrennt werden können.
Zu einer der Gruppen solcher Übergänge bei Rekombinationen
sind Veränderungen in den Rollen zu rechnen, die einzelne
Erfahrungskomponenten, die Lernende bereits mitbringen, im Denken
spielen. Hierbei werden zwar keine neuen Komponenten geschaffen,
wohl aber der relative Einfluß von vorhandenen wesentlich
verändert, wodurch die Gesamtstruktur der Erfahrung zu einer
qualitativ anderen wird.
Bedeutenden Verstärkungen stehen beträchtliche Abschwächungen
gegenüber. Erfahrungen wie die Erfahrung von sich im Zeitablauf
nicht verändernden Gegenständen werden in der Schule
dadurch unverhältnismäßig verstärkt, daß
sie immer wieder verwendet werden, während andere in der
Lebenswelt mindestens ebenso häufige gemachte Erfahrungen,
wie z.B. die Erfahrung, daß sich alles, was lebt, bewegt
oder die Erfahrung, daß sich vieles von selbst oder durch
Einwirkung von außen verändert, in den Rekombinationen
der Schule fast oder gänzlich verschwinden.
Ein weiterer - und in seinen Auswirkungen wahrscheinlich noch
viel wichtigerer Faktor - ist darin zu sehen, daß kein
Bedacht darauf genommen wird, aus welchen Teilen der Welterfahrung
die Erfahrungskomponenten stammen, die bei Rekombinationen eingesetzt
werden. So werden Erfahrungsmuster, die aus der Welt gegenstandsbezogener
Erfahrung stammen, aus dieser Welt gelöst und wie selbstverständlich
auf die Welt der Vorstellungen angewendet. Die überaus nützliche
und für vieles notwendige Gabe der Phantasie produziert
dann Phantasmen.
Der Aufbau eines weiteren Satzes von Grundmustern des Denkens
Parallel zu dem Denken, das aus der Erfahrung der Lebenswelt
entstanden ist, entsteht - aus der Notwendigkeit, fehlende einschlägige
Welterfahrung zu ersetzen und den pädagogischen Imperativen
der rascher Vermittelbarkeit und der Eignung des Vermittelten
zur Dauerhaftigkeit - das Schuldenken, eine neue Denkweise, die
einen weiteren Satz von Grundmustern des Denkens als Fundament
hat, der aus Rekombinationen entstanden ist.
Für diese Denkweise sind, erstens, Prinzipien wie Einfachheit,
Klarheit, Unveränderlichkeit, Eindeutigkeit, scharfe Abgrenzung,
hierarchische Gliederung, Ausschließlichkeit und ausschließliche
Gegenüberstellung, Widerspruchsfreiheit, zweitens, die regulative
Idee, mehrere Menschen könn(t)en identische Erfahrungen
haben, die sich in der Vorstellungen identischer Bedeutungen
von Wörtern und identischer Begriffe niederschlägt,
und drittens, die Vorstellungen >Regel< und >Regelbefolgung<
konstituierend.
Obwohl sich diese Denkweise weitgehend durchgesetzt hat, ergibt
eine genauere Betrachtung ihrer Bestandteile, daß sie nicht
so selbstverständlich sind, wie sie scheinen.
So sehr man sich in Bezug auf die angeführten Prinzipien
auch bemühen mag, in der Welt der Erfahrungen konkrete Ent
sprechungen zu finden, die Suche bleibt ergebnislos. Die regulative
Idee identischer Erfahrungen mehrerer Menschen erweist sich als
völlig unhaltbar. Es scheint sich dabei um eine Idealisierung
der Tatsache zu handeln, daß es Menschen gelingt, mit Wörtern
innerhalb einer Sprachgemeinschaft erfolgreich zu kommunizieren,
wofür identische Bedeutungen aber keineswegs eine notwendige
Voraussetzung darstellen. Was die dritte Komponente dieser Denkweise,
die Vorstellungen >Regeln< und >Regelbefolgung<,
betrifft, so handelt es sich dabei um nichts anderes als um die
einfache Ersetzung der Erfahrung tatsächlich geübter
Praktiken durch eine Rekonzeptualisierung, deren Basis die Erfahrungsmuster
>Befehl< und >Befehlsausführung< sind, wobei
die Mehrzahl von >Befehl< als >Regeln< und >Befehlsausführung<
als >Regelbefolgung< paraphrasiert wird.
Eine Denkwelt der Modelle und Konstruktionen, der scharfen
Konturen und einfärbiger Flächen tritt an die Stelle
einer Denkwelt, die aus sich vielfältig überlappenden,
unablässig verändernden, ihre Farben und deren Schattierungen
wechselnden Eindrücken der Lebenswelt besteht. Zu dieser
neuen Denkwelt gehört auch die Vorstellung eines Begriffes
als Bedeutung eines Wortes.
1.3. ZUM SPRACHERWERB BEIM LESEN
Lesen - ein besonders armer und besonders freier Lernkontext
Obwohl Lernen in der Schule in einem - in Bezug auf die Inhalte
- verarmten Lernkontext stattfindet, ist es doch noch immer ein
sozialer Vorgang, bei dem soziale Interaktionen und die dabei
vorkommenden Verhaltensweisen direkt erfahrbar sind.
Demgegenüber lernt man beim individuellen Lesen und Betrachten
von Bildern in einem noch viel stärker verarmten Lernkontext:
Lernen ist hier ein ausschließlich individueller Vorgang
ohne jede soziale Interaktion. Die Entwicklung der Schriftform
der Sprache hat die Vermittlung von Erfahrungen unabhängig
von der direkten Weitergabe von Mensch zu Mensch gemacht. Lesende
müssen beim Lesen auftretende kognitive Dissonanzen mit
sich selbst ausmachen. Rückfragen sind ebenso ausgeschlossen
wie Korrekturen durch andere. Ein Ausverhandeln des Sinns von
Aussagen ist nur mehr mit sich selbst möglich.
Die soziale Komponente aller menschlichen Erfahrung ist zwar
ebenfalls präsent, allerdings nur in Form vergangener Erfahrungen
sozialer Interaktionen und dessen, was damals diese selbst und
was später Aktivierungen ihrer Spuren bewirkt haben.
Beim individuellen Lesen stehen als Denkanstöße
überhaupt nur mehr visuelle Spracherfahrungen zur Verfügung,
die allenfalls durch lautloses Mitsprechen ergänzt werden.
Ergebnis ist, daß sich der Umgang des Lesers mit der Welt
ausschließlich auf ein Jonglieren mit Vorstellungen beschränkt,
jenen Vorstellungen, die die Wörter in uns auslösen,
und solchen, die unsere Phantasie durch Rekombination dieser
ausgelösten Vorstellungen mit anderen Vorerfahrungen erschafft.
Lernen durch Lesen ist also ein ausschließlich virtueller
Vorgang. Durch den neuerlichen Aufruf von Vorstellungen, die
wir früher mit bereits beherrschten Wörtern zu verbinden
gelernt haben, die jetzt jedoch in anderer Verbindung auftreten,
entstehen neue Vorstellungen. Man hantelt sich sozusagen mit
Hilfe der Wörter von dem, was einem schon bekannt war, weiter
zu dem, was man noch nicht wußte. Handlungs- und Sinneserfahrungen,
die von den Lesenden nie gemacht wurden, können - da nicht
vorhanden - nicht eingebracht werden und stehen daher auch für
Rekombinationen nicht zur Verfügung.
Nicht alles, was man liest, ist von derselben Art. Es gibt
verschiedene Textsorten und verschiedene Einschätzungen
und Einstellungen, mit denen man sich ihnen nähert. Wichtig
ist in unserem Zusammenhang, daß das Lesen verschiedener
Textarten nicht dieselben Lernwirkungen auslöst.
Es gibt Bücher, deren Inhalt man ähnlich jener von
Erzählungen eines Bekannten einschätzt: viele Romane,
Novellen, Erzählungen werden so bewertet. Und es gibt Texte,
die man so ähnlich einschätzt wie ein Kunstwerk der
Malerei oder Musik: große Teile der Lyrik kann man so sehen.
Darüber hinaus gibt es viele andere Textsorten und unzählige
Mischformen.
Hier kommt die dem Lernkontext Lesen inhärente Freiheit
voll zum Tragen: Der Weiterentwicklung und Verbindung von Vorstellungen,
dem Spinnen von Gedankenfäden, dem Ausmalen der durch den
Text suggerierten Vorstellungen sind und werden keine Grenzen
gesetzt. Wohl aber wirken sich die durch individuelle Einübung
erworbenen Strukturen des Denkens der Gemeinschaft von Menschen
aus, in der man lebt.
Bücher mit Autorität
Es gibt aber auch vielerlei Arten von Büchern, denen
die Menschen, mit denen man in Kontakt ist, Autorität zusprechen:
wissenschaftliche Werke, Lehrbücher, aber auch die Verfassungen
von Staaten oder die zentralen Texte religiöser Überlieferungen
gehören dazu.
Es gibt aber auch Bücher, bei denen ein besonders breiter
Konsens besteht, daß den darin enthaltenen schriftlichen
Texten und Abbildungen Stück für Stück Allgemeingültigkeit
zukommt. Zwei Arten solcher Bücher, Lexika und Wörterbücher,
sollen hier herausgegriffen werden.
Schaut man in einem Wörterbuch bzw. einem Lexikon nach,
wird der dabei aufgenommenen Information Allge meingültigkeit
zugeschrieben. Vorstellungen, die beim Lernen aus solchen Büchern
entstehen, werden ebenfalls als allgemeingültig eingestuft.
Lernen aus Wörterbüchern
Dem Lernen beim normalen Lesen ist das Lernen aus einsprachigen
Wörterbüchern sehr ähnlich. Von den Unterschieden
treten zwei besonders deutlich hervor: den Texten wird Autorität
zugeschrieben, der Lernvorgang ist entkontextualisiert.
Die in einsprachigen Wörterbüchern angeführten
Bedeutungen von Wörtern sind meist Paraphrasen mit Hilfe
eines oder mehrerer anderer Wörter. Sehr viel seltener werden
Gegensätze angeführt. Ob mit gleichen, mit überlappenden
oder mit gegensetzbaren Bedeutungen gearbeitet wird, immer geht
es um die Schaffung von Verbindungen zwischen Bedeutungen und
Wörtern und von Bedeutungen zu Bedeutungen, um Strukturierungen
und Ergänzungen von Vorstellungswelten. Eine Paraphrase
eines Wörterbuches schafft eine sich gegenseitig stützende
Bedeutungsverbindung, eine Art von Redundanz innerhalb der Welt
der Bedeutungen, bei der die anderen Wörter als Hei ratsvermittler
fungieren. Die Paraphrasen eines einsprachigen Wörterbuchs
ergänzen den Werkzeugkasten, indem sie mit Hilfe der vorhandenen
Werkzeuge neue Werkzeuge schaffen. Das Wort ist der Griff, die
mit Hilfe der Paraphrase geschaffenen, reartikulierten Verbindungen
ergeben als Ergebnis der Transformation die neue Bedeutung. Weitgehend
kontextfrei entstanden, kann das neue Wort - wie Werkzeuge auch
- in verschiedenen Kontexten verwendet werden.
Lernen aus Lexika
Texte in Lexika beschreiben häufig Strukturen oder Mechanismen
von Gebilden und Prozessen in Lebens- oder Denkwelten und geben
oft auch Informationen über Zu- und Einordnungen. Worauf
es hier ankommt, ist einerseits die Schaffung einer Vorstellung
aus vielen Komponenten, die dann als verbundenes Gefüge
dem Wort in einem Stück als Bedeutung zugeschrieben wird,
andererseits die Zuordnung dieses Gefüges zu und seine Positionierung
in größeren Vorstellungsfeldern. Die Schaffung des
Vorstellungsgefüges hat hier Vorrang vor allem anderen.
Wie Lernen mit Hilfe von Lexika vor sich gehen und welche
Ergebnisse es haben kann, hat wohl kaum jemand so griffig beschrieben
wie Jean-Paul Sartre:
»Der Grand Larousse ersetzte mir alles: ... ich
hob dort richtige Vögel aus, jagte nach richtigen Schmetterlingen,
die sich auf richtigen Bäumen niedergelassen hatten. Menschen
und Tiere waren dort, in Person: die Abbildungen waren
der Körper, der Text war ihre Seele, ihre einzigartige Essenz;
außerhalb seiner vier Wände traf man auf matte Entwürfe,
die sich den Archetypen mehr oder weniger annäherten, ohne
deren Vollkommenheit zu erreichen. Die Affen im Zoologischen
Garten waren weniger Affe, die Menschen im Jardin de Luxembourg
waren weniger Mensch.«
»Ich fand die Idee wirklicher als die Sache selbst,
denn die Idee gab sich mir zuerst, und sie gab sich mir wie eine
Sache.«9
Solche Prozesse haben viele Wirkungen. Das Sich-völlig-Hingeben
an den Text führt zur Ausblendung der aktualen Lebensumstände
des Lesers und macht die sich en suite auslösenden
Vorstellungen zur gegenwärtig wirklichen Welt des Lesenden.
Eine andere ergibt sich aus dem Wiederaufsuchen, aus dem Rückkehren
zu der sich in ihren visuellen Aspekten fast unverändert
gebenden Abbildung, das Erfahrungen schafft, die jenen verwandt
sind, die ich oben als Lernen mit Hilfe von vereinfachten Abbildungen
beschrieben habe. Gegenwärtige wirkliche Welt, fast unverändert
ein treffende Eindrücke und die aus dem Vorwissen stammende
Zuschreibung von Gültigkeit verbinden sich zum beschriebenen
>wirklicher als die Wirklichkeit<.
Prägnante verarmte Vorstellungen
Die hier von Sartre angesprochenen Vorstellungen, die er zuerst
als Archetypus und später als Idee bezeichnet, die ihm wirklicher
erschien als die Sache selbst, unterscheiden sich von all dem,
wofür Begriff, Abstraktion, Reduktion und Konstruktion stehen,
sie sind weder Archetypen noch platonische Ideen. Sie beruhen
nicht auf Merkmalen, sondern auf unverschliffener, übergangsloser
Form. Sie sind dem ähnlich, was sich beim Lernen mit Hilfe
vereinfachter Abbildungen und dem, was sich beim gestaltenden
Festhalten einer Kontur ergibt, über die Matisse sagt
»Kontur ergibt einen großartigen Stil (sobald
man sich an Halbtöne hält, ist man der Wahrheit näher,
aber weniger großartig).«10
Vorstellungen dieser Art sind verdichteten Vorstellungen ähnlich,
ohne je verdichtet worden zu sein. Sie enthalten keine Details,
die die Reinheit der Form stören, die andere, wesentliche
Momente verdrängen oder deren Gewicht verringern könnten.
Es sind Vorstellungen, die wir als einheitlich und einfach sowie
durch Einklang und Ausgewogenheit, Reinheit, Klarheit und Ruhe,
Abgehobenheit und Dauerhaftigkeit ausgezeichnet empfinden.
Diese Art von Vorstellungen ist mit dem, was man das Wesen
einer Sache nennt, verwandt, denn das, was sie ausmacht, ist,
daß sie nur aus (sogenannt) Wesentlichem bestehen. (Es
muß allerdings hervorgehoben werden, daß das, was
man hier als das Wesentliche begreift, eben das ist, was die
Vorstellung ausmacht - die Vorstellung enthält sonst nichts.
Daraus folgt, daß bei diesen Vorstellungen von einem Wesentlichen
eigentlich nicht gesprochen werden kann, da sie daneben nichts
weniger Wichtiges enthalten.)
Es handelt sich also um sehr prägnante Vorstellungen.
Doch diese Prägnanz hat eine Kehrseite: ihre innere Armut.
Ich ordne sie daher einer Gruppe von Vorstellungen zu, die ich
prägnante verarmte Vorstellungen nenne.
Es gibt viele Arten von mehr oder weniger prägnanten
und mehr oder weniger verarmten Vorstellungen und viele Übergänge,
viele Schattierungen. Modelle, Pläne und Landkarten, vereinfachte
Abbildungen sowie Formeln und Sprichwörter führen zu
besonders prägnanten Vorstellungen. Auch als Regeln gelernte
Regeln gehören hierher. Auch aus dem Wörterbuch gelernte
Bedeutungen von Wörtern bilden eine ihrer Arten: sie sind
prägnanter, aber viel ärmer als die sich aus dem vielfältigen
Gebrauch des Wortes in der lebenden Sprache ergebenden Bedeutungen.
Für die von Sartre erwähnte Art ist nicht von Belang,
wie man die Art der Vorstellung theoretisch erklärt, sondern
wie man sie erwirbt und wie sie sich verfestigt. Es besteht ein
wichtiger Unterschied zwischen der geschichtlichen (Erst-)Entstehung
einer Vorstellung und der Entstehung einer Vorstellung im einzelnen
Menschen. In der üblichen Diskussion über dieses Thema
werden die beiden Vorgänge meistens vermischt. Selbst wenn
in der geschichtlichen Entstehung von Vorstellungen wie jener,
auf denen z.B. die Ausfertigung der Abbildungen im Grand Larousse
beruhen, wahrscheinlich Reduktionen bzw. Abstraktionen oder Verdichtungen
eine Rolle gespielt haben, der Aufbau einer Vorstellung in einzelnen
Menschen läuft anders ab. Und nur das, was dabei - und bei
späteren Aktivierungen dieser Vorstellungen - abläuft,
hinterläßt in den Menschen Spuren, ist zu einer ihrer
Vorstellungen geworden.
1.4. ZUM LERNEN EINER ZWEITSPRACHE IM KLASSENZIMMER
Für den überwiegenden Teil all jener, die eine Sprache
lernen wollen, ist das Lernen einer Zweitsprache in deren Lebenswelt
aus praktischen und finanziellen Gründen unmöglich.
Das Lernen solcher Sprachen in Klassenzimmern und Kursräumen
ist daher in unseren Breiten wohl die am weitesten verbreitete
Form. Daher ist auch das, was bei dieser Art von Lernen vor sich
geht, besonders wichtig.
Denkt man darüber nach, stößt man auf einen
Mechanismus unter vielen anderen, der für unsere Überlegungen
besonders wichtig ist: Das Lernen einer Zweitsprache mit Hilfe
der Erstsprache, ihrer Wörter und ihrer semiotischen Relationen.
Die Logik des Vokabelheftes
Werden zum Lernen der Bedeutungen der Wörter einer Zweitsprache
primär und systematisch die Wörter der Erstsprache
herangezogen, wird den meisten Wörtern, also den neugelernten
Lautmustern der Zweitsprache, das Bedeutungsgefüge des Wortes
der Erstsprache >tel quel< angehängt.
Die Beteiligten - Lehrer wie Lernende - verhalten sich bei
dieser Art von Sprachunterricht wie in der Mathematik. Sie schreiben
auf der einen Seite der Gleichung das Wort der Erstsprache, auf
die zweite Seite der Gleichung das Wort der Zweitsprache und
verbinden die beiden Seiten - allerdings nur gedanklich - durch
ein >Ist-gleich-Zeichen<.
Das ist die Logik eines Vokabelheftes. Sie zeichnet sich durch
einen Bedeutungstransfer >tel quel<, durch die >eins-zu-eins<-Übernahme
der Bedeutung, durch einen Vorstellungstransfer (fast) ohne jede
Veränderung aus.
Die Logik des Vokabelheftes führt nicht nur dazu, daß
wir lernen, ein bestimmtes Wort der einen Sprache durch ein bestimmtes
Wort der anderen Sprache wiederzugeben - die beiden Wörter
als - eins zu eins - austauschbar anzusehen.
Das >eins-zu-eins< Prinzip und die >eins-zu-eins<
Denkweise
Vokabelhefte, die entsprechenden Teile von Lehrbüchern
und einfachere zweisprachige Wörterbücher vermitteln
implizit auch, daß es prinzipiell so ist, daß zwischen
Wörtern verschiedener Sprachen eine >Ist-gleich<-Relation
besteht. Ein Prinzip, von dem es zwar Ausnahmen gibt, das aber
überall dort als zutreffend angenommen wird, wo wir nicht
ausdrücklich auf Unterschiede in den Verwendungsweisen hingewiesen
werden.
Das >eins-zu-eins<-Prinzip wird um so leichter akzeptiert,
als es beim Unterricht in vielfältigen Formen Verwendung
findet: Beim Mathematikunterricht findet es sich in jeder Gleichung,
beim Sachunterricht in jeder Definition, beim Unterricht der
Erstsprache in der vorherrschenden Vorstellung von der Bedeutung
eines Wortes. Die Logik des Vokabelheftes ist also keine Ausnahme,
nur ein besonders deutlicher Fall der weitverbreiteten und häufigen
Anwendung des >eins-zu-eins<-Prinzips.
Aufgrund seiner vielfältigen und vielfachen Wiederholung
wird aus dem >eins-zu-eins<-Prinzip eine >eins-zu-eins<-Einstellung,
eine Denkweise, der man schwer widersteht.11
2. ZU >MUSTERN< UND >ALTERNATIVEN<
Nachdem ich schon wiederholt von Mustern
gesprochen habe, ist es nun an der Zeit, die Vorstellungen, die
wir mit diesem Wort >Muster< verbinden, aus ihren Kontexten
herauszuheben und uns getrennt damit zu auseinanderzusetzen.
2.1. MUSTER - DENKMUSTER
Was sind >Muster< ?
Ein Muster ist etwas, das wir erkennen; und das, was uns hilft,
es zu erkennen. Worte, Routinen und Rituale, Frames und Skripte
sind Muster. Begriffe und Vorstellungen sind Muster. Sowohl sprachliche
als auch gedankliche Abfolgen aller Arten, die wir erkennen,
die wir einsetzen können, sind Muster.
Wie gebrauchen wir - wie übersetzen wir - das Wort
>Muster< ?
Wenn wir uns fragen, was das Wort >Muster< bedeutet,
ist es nützlich, nachzuschauen, wie wir das Wort verwenden,
da einem, wenn man darüber nachdenkt, immer nur einige dieser
Verwendungen in den Sinn kommen.12
Im Deutschen sind Wörter, in denen
Muster als Bestandteil vorkommt, z.B. Stoffmuster, ein gemusterter
Stoff, Gebrauchsmuster und Geschmacksmuster, eine Musterkollektion
sowie Musterschüler.
Wenn wir weiters nachschauen, wie diese Wörter übersetzt
werden, finden wir im Englischen u.a. a model, a pattern,
a paradigm, a sample, an example, a design, a standard, an ideal,
im Französischen u.a. un modèle, un exemplaire,
un échantillon, une marque de fabrique, un exemple,
sowie - speziell auf den Bereich der Schneiderei bezogen - un
modèle, un patron, un dessin, un motif (de tissu), une
carte d'échantillons.
Welche Arten von Vorstellungen verbinden wir mit Mustern
?
Gegenstände als Muster
Eine Art von Vorstellungen, die wir mit einem Muster verbinden,
sind Vorstellungen von Gegenständen, wie Stoffmuster und
Farbmuster oder das Ur-Meter in Paris. Keine Gegenstände,
aber trotzdem gegenständliche Vorstellungen sind Muster,
wie man sie in Teppichen, Tapeten- oder Stoffen findet. Aber
auch Abbildungen, die z.B. in Lexika, in Naturgeschichte- oder
in Büchern über technische Geräte vorkommen, sind
Muster dieser Art.
Bei dem, aus dem diese beiden Arten von Vorstellungen hervorgehen,
handelt es sich um etwas, zu dem man zurückkehren, das man
noch einmal anschauen kann, das man als Vorlage, als Modell,
als Maßstab für etwas anderes, für etwas zu Vergleichendes,
für ein Schaffen nach dem Bilde nehmen kann, bei beiden
handelt es sich um gegenständliche Muster.
Abläufe als Muster
Sprechen und Hören, alle Arten von Bewegungen, das Wetter,
ja das Leben selbst, sind Abläufe aus vielfältigen
Mustern, in denen wir auch Muster erkennen.
Will man Ablaufmuster miteinander vergleichen, ist das schwieriger
als bei gegenständlichen Mustern. Was soll zum Vergleich
herangezogen werden, wenn zwei Ablaufmuster zu verschiedenen
Zeiten auftreten? Man kann nun einmal zu einem Ablaufmuster nicht
zurückkehren, es ein zweites Mal erleben. Wenn es abgelaufen
ist, ist es - ein für alle Male - vorbei.13
Menschen entwickeln Vorstellungen, die Muster von Bewegungen,
von Verhalten, von Gesten sind, sie merken sich unwiederholbare
Geschehensabfolgen, und sie entwickeln wiederholbare, standardisierte
Ablaufmuster (wie Uhren), die sie zum Vergleich ungleichzeitiger
unwiederholbarer Abfolgen einsetzen. Mit den Sinnen aufnehmbare
Ablaufmuster sind überall anzutreffen, wo Leben ist: Leben
und Denken, ebenso wie der Sprachgebrauch, findet in Ablaufmustern
statt. Die Verwandlungen wegzudenken und die Wandlungsmuster
auf gegenständliche Muster zu reduzieren, führt zu
schweren Fehleinschätzungen in unserem Weltverständnis.
Sowohl >einmal< als auch >wiederholt<
Eine der Vorstellungen, die wir mit einem Muster verbinden,
hängt mit der Häufigkeit ihres Auftretens zusammen:
Ein >Muster< wird oft als etwas genommen, daß es
einmal gibt, daß sich aber wiederholen kann und wird. Besonders
schön läßt sich dies am Wort >Stoffmuster<
exemplifizieren, das beide Bedeutungen hat: die Sammlung kleiner
Stücke von Stoffen, die als ein Stück vorgelegt wird,
und das jeweilige >Muster im Stoff<, mit denen diese Stoffe
bedruckt sind.
Sowohl >Muster im Gleichzeitigen< als auch >Muster
im Nacheinander< und >des Nacheinander<
Zu den Struktureigentümlichkeiten von Mustern gehört
Form. Formen im Gleichzeitigen, Formen im Nacheinander und Formen
der Übergänge.
Was z.B. unsere Augen oder Ohren auf einmal erfassen, sind
Formen im Gleichzeitigen. Sie sind und ergeben Muster des Gleichzeitigen.
Was unsere Augen oder Ohren im nächsten Moment auf einmal
erfassen, sind wieder Formen im Gleichzeitigen. Die aufeinander
folgenden Muster des Gleichzeitigen ergeben aber auch Formen
im Nacheinander und Formen des Übergangs, Formen des Nacheinander.
Muster sind also Formen im Gleichzeitigen sowie die Veränderung
dieser Formen und die je veränderten Formen im Ablauf. Was
im Nacheinander erfaßt wird, sind Veränderungen solcher
Formen im Ablauf. Sie sind und ergeben Muster des Nacheinander,
Ablaufmuster und Wandlungsmuster.
Muster als >die Antwort, die sich uns gibt<
In seiner Einleitung zu der von ihm herausgegebenen Ausgabe
des Cours de linguistique générale von Saussure
sagt Tullio de Mauro >Sprecher wissen, daß ... die unzähligen
Wiederholungen< eines Wortes >über
die vielfältigen Variationen des Sinns und Klangs hinaus
Repliken ein und derselben Einheit sind<.14
Der - allgemein formulierten und daher als immer gültig
behaupteten - Auffassung, daß es sich in solchen Fällen
um eine >gleiche Einheit< handelt, kann ich nicht zustimmen.
Denn es handelt sich um einen Zirkel: Erst dadurch, daß
Sprecher bzw. Hörer das Gesprochene bzw. Gehörte als
ein und dieselbe Einheit interpretieren, wird es für die
jeweils betroffenen Fälle zu ein und derselben Einheit.
Hingegen enthält das Denkmuster >une réplique<
eine mögliche Lösung der Problematik unseres Umganges
mit dem Wort >Muster, denn >une réplique<
ist nicht nur eine Replika, eine Kopie, sondern auch eine Antwort,
eine Erwiderung.
Soweit wir nicht von der ersten Entstehung eines Musters in
einem Individuum sprechen, sondern von Denkmustern, die es bereits
zur Verfügung hat, ist ein Denkmuster auch eine >Replik<.
Ein Denkmuster ist auch >die Antwort, die sich uns gibt<,
wenn wir etwas als ähnlich empfinden, wenn wir etwas oder
jemanden erkennen. Da wird nicht nachgedacht - außer in
Grenzfällen. Es ist die Antwort, die sich uns gibt, die
aus einem Durchmarsch durch die Spuren vieler früherer Erfahrungen
entsteht, einem Durchfluß, der die geeignetsten unter den
Verzweigungen, zu denen es gedrängt wird, aktiviert.
Die Muster sind jedesmal neu
Die Muster, die in der Kommunikation von Menschen mit ihrer
Umwelt und mit anderen Menschen auftreten, die Wahrnehmungs-,
Denk- und Verhaltensmuster, von denen ich hier spreche, sind
keine Gegenstände, auch wenn die Gegenstände - darunter
auch jene Gegenstände, von denen wir jene sich verändernden
Informationen empfangen, die wir als Muster nehmen - dieselben
bleiben (wobei wir allerdings vernachlässigen, daß
auch sie sich unablässig - wenn auch im sichtbaren Bereich
sehr, sehr langsam - verändern).
Beide, sowohl das jeweils eintreffende Muster als auch die
jeweilige Antwort, die sich uns gibt, sind jedesmal neu.
Doch selbst wenn uns etwas als wiederkehrend, als Wiederholung,
als déjà vu erscheint, die Muster entstehen
jedesmal neu - ebenso wie bei Stoffen jede Wiederholung des Musters
neu gedruckt werden muß. Jede Antwort, die sich uns gibt,
ist - wie alles Lebende - jedesmal neu, jedesmal leicht verändert,
entsteht in der Reaktion als Aktion.
Und wenn nur durch die veränderten kontextuellen oder
situationellen Verbindungen, welche die - visuelle und/oder gedankliche
- Perspektive verändern, und damit sowohl das Äußere
in einer veränderten Kontur und in einer anderen Form als
auch das Innere in einer anderen Selektion darstellt und in einem
anderen Lichte erscheinen lassen.
>Muster< - eine Schlüsselvorstellung_ der Denkform
des >sowohl - als auch<
>Eines für Vieles< und >Vieles für Eines<
Aus einer der französischen Übersetzungen von Muster,
>un exemplaire<, ergibt sich wohl am deutlichsten,
daß es hier um ein Wort geht, mit dem eine reziproke Beziehung
von der Art >Eines für Vieles< und >Vieles für
Eines< hergestellt wird. Alle drei, das Eine, Vieles, aber
auch die Vielen, sind mögliche Bedeutungen dieses Wortes.
Die Bedeutung des Wortes >Muster< entzieht sich der
üblichen Einteilung in Einzahl und Mehrzahl. Muster bedeutet
beides: Seine Bedeutung enthält den Übergang von der
Einzahl zur Sammel-Mehrzahl, zur Überlappungs- und zur Verflechtungs-Mehrzahl
wie auch den Übergang von jeder dieser Mehrzahlarten zur
Einzahl.
Wird versucht, diese Struktureigentümlichkeit, das >sowohl
- als auch<, aus Vorstellungen des Typs >Muster< zu
entfernen, wie das in der westlichen Denkgeschichte immer wieder
geschehen ist und noch immer geschieht, entstehen schwere Denkfehler,
die vermeidbar wären.
2.2. ALTERNATIV - ALTERNATIVE MUSTER
Welche Vorstellungen verbinden wir mit >alternativ<
?
1. Zwei Möglichkeiten, von denen nur eine richtig
sein kann
Ich habe mir dazu einige wenige Wörterbücher angesehen.15
Alle, die ich konsultiert habe, führen die Bedeutung
>Wahl, Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten<
an.16
In der Logik ist eine Alternative >eine
Aussagenverbindung, die wahr ist, wenn mindestens eine der beiden
verbundenen Aussagen wahr ist, und die falsch ist, wenn beide
verbundenen Aussagen falsch sind<.17
Eine Variante dieser Bedeutung ist die Wechselfolge,
ein Hin und Her, wie z.B. bei einem Pendel, oder ein Auf und
Ab, wie z.B. bei Ebbe und Flut, wo zwei Formen abwechselnd auftreten,
wobei die eine - mit Übergängen - in die andere übergeht
und zu jedem beliebigen Zeitpunkt höchstens eine wahr sein
kann.18
In all diesen Bedeutungen wird als Ausgangssituation
eine Zweiheit als gegeben angenommen, die zur einer Komponente
des Anwendungskriteriums wird - neben dem Zutreffen von mindestens
einem der beiden.
2. Mehrere Möglichkeiten, von denen nur eine richtig
sein kann
In den meisten, wenn auch nicht in allen konsultierten Wörterbüchern,19
ist zusätzlich die folgende Bedeutung enthalten: >zwei
oder mehrere Möglichkeiten (von denen mindestens eine Wirklichkeit
ist)< bzw. >one of more than two possibilities<.20
In dieser Bedeutung wird als Ausgangssituation also eine Mehrzahl,
eine Vielheit, als gegeben angenommen, die ebenfalls zur Komponente
des Anwendungskriteriums dieser Bedeutung wird.
3. Die Vorstellung >alternativ< auf sich selbst angewandt
Es zeigt sich somit, daß die Vorstellungen, die wir
mit dem Wort >alternativ< verbinden, auch auf das Wort
>alternativ< und auf seine Bedeutungen - also auf sich
selbst - angewandt werden kann und muß.
Alternative Bedeutungen
Wenn wir über ein neuerliches Auftreten eines Ablaufmusters
nachdenken, entstehen oft absurde Vorstellungen, wie jene, es
könne ein einziges einem Wort entsprechendes Muster, z.B.
ein einziges, dem Wort >Baum< entsprechendes >Baummuster<
geben, das als visuelle Vorstellungsvorlage für alle Bäume
der Lebenswelt dienen kann bzw. das als einheitliche Vorstellung
in allen Fällen der Verwendung des Wortes >Baum<
auftritt.
In diesem Zusammenhang und an diesem Beispiel läßt
sich der Unterschied zwischen Erfahrungsmustern aus der Lebenswelt
und aus verarmten Lernsituationen noch einmal auf andere Art
verdeutlichen: Die Merkmale von >Baum< ergeben keine
Form, die auf alle tatsächlich beobachtbaren Bäume
paßt.
Unser Problem wird scheinbar dadurch noch komplizierter, daß
sich auch aus der Vielfalt der real-existierenden Bäume
keine Form gewinnen läßt, die auf alle tatsächliche
beobachtbaren Bäume paßt. Man muß also die Frage
beantworten: Was geht hier vor?
Lernt man in der Lebenswelt das Wort >Baum<, so wird
z.B. in einem Fall damit die visuelle Vorstellung einer Fichte,
in einem anderen Fall die einer Buche, in einem dritten Fall
die einer Palme verbunden. Die Bedeutung des Wortes ist also
in jedem dieser Fälle eine andere.
Geht man - wie weiter oben ausgeführt - davon aus, daß
ein Wort aus den drei Komponenten Lautmuster, Bedeutung und der
Verbindung dieser beiden besteht, handelt es sich bei diesen
drei Verwendungen gar nicht um ein und dasselbe Wort, sondern
nur um dasselbe Lautmuster (wobei >Muster< hier in seiner
Bedeutung >als Gefüge des Vielen<, also als Gefüge
der vielen sehr ähnlichen Lautmuster zu verstehen ist, die
wir als dasselbe Lautmuster interpretieren), denn bei den jeweiligen
Verwendungen wird das ausgesprochene und gehörte Lautmuster
jeweils mit einer anderen Erfahrung verbunden, hat also jeweils
eine andere Bedeutung.
Verwendet man - nachdem man es gelernt hat - das Wort >Baum<,
so gibt es mindestens drei prägnante Varianten mit zahllosen
Übergängen: entweder wird eine der spezifischen Vorstellungen
damit verbunden oder es entsteht eine matte Vorstellung des Typs
>composite photography< oder die Vorstellung bleibt vage
- einem Nebel nicht unähnlich.
Eine Vorstellung des Typs >composite photography< kommt
zwar der eines einzigen dem Wort entsprechenden Musters am nächsten,
kann aber unser Problem unter anderem deshalb nicht lösen,
da solche Vorstellungen keineswegs immer auftreten. Aber selbst
in all jenen Fällen, in denen eine Vorstellung des Typs
>composite photography< auftritt, kann immer - ebenso wie
in allen Fällen vager, nebelartiger Vorstellungen - auch
eine der spezifischen Vorstellungen (in unserem Beispiel die
Vorstellung einer Fichte, Buche oder Palme) mit dem Wort verbunden
bzw. durch es ausgelöst werden. Die Bedeutung des Wortes
bleibt also auch in allen diesen Fällen variabel, es liegen
unzweifelhaft alternative Bedeutungen vor.
Da es das eine einzige dem Wort entsprechende Muster nicht
gibt, muß eine andere Lösung gesucht werden.
>Dies und das und jenes<-Muster
Erst wenn wir ein Lautmuster nicht als das eine, das jeweilige
Lautmuster, sondern als das Gefüge der vielen sehr ähnlichen
Lautmuster und seine Bedeutung nicht als die eine, die jeweilige
Bedeutung einer einmaligen Verwendung eines dieser Lautmuster,
sondern als das Gefüge der vielen, bei verschiedenen Verwendungen
eines solchen Lautmusters jeweils gemeinten bzw. verstandenen
Bedeutungen, also als sein mannigfaltig verwobenes Bedeutungsmuster
interpretieren, bekommen wir das, was wir in den meisten Fällen
meinen, wenn wir von >ein und demselben Wort< sprechen.
>Ein und dasselbe Wort< ist aber nur der Form nach eine
Einzahl, dem Sinn nach ist es ein Kollektivsingular.21
Das Bedeutungsmuster, das sich mit dem Wort >Baum< verbindet,
ist ein Bedeutungsmuster von der Art >dies und das und jenes<.
Allgemeiner formuliert: Aus dem vielfachen Gebrauch eines Wortes
in der Lebenswelt entstehen >dies und das und jenes<-Bedeutungen
des jeweiligen Wortes.
Das berühmte Zitat Ludwig Wittgensteins »Man
kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes >Bedeutung<
- wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung
- dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist
sein Gebrauch in der Sprache«22
ist meiner Meinung nach in diesem Sinne zu interpretieren. Meine
Termini >dies und das und jenes<-Muster bzw. >dies und
das und jenes<-Bedeutungen sind dann Umformungen der in diesem
Zitat gemachten Aussage in modellartige Vorstellungen.23
Was >dies und das und jenes<-Muster zusammenhält,
ist die Praxis,24 ist die Erfahrung der
Verwendung des jeweiligen Wortes, sind die unzähligen Erfahrungen
>richtiger< und >falscher< Verwendungen, d.h. des
Akzeptierens, Tolerierens und Zurückweisens der Verwendung
dieses Wortes durch Andere und durch sich selbst.
Beim >dies<, beim >das< und beim >jenes<
handelt es sich also keineswegs um Beliebiges.25
Beliebig ist die Schaffung und Zuschreibung
eines Wortes nur bei seiner Erstverwendung - und allenfalls noch
in den ganz frühen Phasen dessen, wovon man - nachdem das
Wort schon etabliert ist - als von seiner Verbreitung und seiner
Akzeptanz in einer Gruppe, von seiner Zugehörigkeit zu einer
Sprache sprechen wird.
Was wir Bedeutung nennen, ist nichts Fixes, nichts ein für
alle mal Gegebenes. Was wir Bedeutung nennen, ist nicht eine
Definition, sind auch nicht die Paraphrasen eines einsprachigen
und auch nicht die Übersetzungen eines zweisprachigen Wörterbuchs.
All dies sind Hilfsmittel, Annäherungs- und Einstiegshilfen
in eine Praxis, in der Verbindungen mit anderen Vorstellungen
verbaler und non-verbaler Art hergestellt werden, aus denen sich
der Sinn ergibt.
Will man die gesamte Bedeutung eines Wortes erfassen, muß
man von der Idee wegkommen, daß die verarmten Formen die
Vielfalt ersetzen können. Weder die wenigen in einem Wörterbuch
angeführten Paraphrasen, noch Definitionen und die mit ihrer
Hilfe geschaffenen Begriffe, noch als Begriffe geltende modellartige
Vorstellungen welcher Art auch immer können die Vielfalt
seiner Bedeutungen adäquat wiedergeben. Verarmte Formen
und Formen aus der Lebenswelt sind häufig mit ein und demselben
Wort verbunden. Demnach sind auch Verwendungen eines bestimmten
Wortes gemäß einer der Paraphrasen eines Wörterbuchs
als auch Verwendungen eines bestimmten Wortes als >dieser
Begriff< nur mehr oder weniger häufige Fälle unter
den unzähligen Versionen des >dies und das und jenes<.
Die Struktureigentümlichkeit dessen, was wir die Bedeutung
eines Wortes nennen und das alle Bedeutungen eines Wortes erfassen
muß, wenn es den Erfordernissen einer als gültig anerkennbaren
allgemeinen Aussage entsprechen soll, läßt sich adäquat
nur durch die Vorstellung von >dies und das und jenes<-Mustern
wiedergeben.
Ohne >dies und das und jenes<-Muster würde Sprache
nicht funktionieren
Laut- und Schriftmuster sind alle von der Art der in der Lebenswelt
erworbenen Muster. Auch hier gibt es viele Arten, ein Wort auszusprechen,
zu schreiben oder zu drucken. Die meisten davon verstehen wir
ohne jedes Problem. Aber auch hier gibt es Grenzfälle. Werden
Wörter mit einem starken Akzent ausgesprochen oder mit einer
unvertrauten Handschrift geschrieben, können beim Versuch,
ein Laut- oder Schriftmuster (als ein bestimmtes Wort) zu identifizieren,
Schwierigkeiten auftreten. Je mehr verschiedene Einzelmuster
wir kennengelernt und zu einem >dies und das und jenes<-Muster
verbunden haben, um so eher werden wir in der Lage sein, einen
Einzelfall als dieses Laut- bzw. Schriftmuster zu identifizieren.
Auch die Zuordnung eines Wortes zu einem Gegenstand (z.B.
des Wortes >Baum< zu einem Baum, den wir sehen) läuft
über >dies und das und jenes<-Muster. Denn die aufgenommenen
Sinneseindrücke und ihre jeweiligen Verarbeitungen sind
jeweils singuläre Verläufe: jeder einzelne Fall unterscheidet
sich - sowohl im Gleichzeitigen als auch im Nacheinander - von
jedem anderen Fall.
Würden wir jeweils nur über ein einziges - wenn
auch noch so prägnantes und vielmals unverändert eingeübtes
- >Baummuster< verfügen, könnten wir andere
Arten von Bäumen nicht als Bäume identifizieren.
Allgemeiner formuliert: Vorbewußtes Identifizieren von
Ähnlichem als zu einer bestimmten Art gehörig26
erfolgt - sowohl bei Lautmustern als auch bei visuellen Eindrücken
aus der Lebenswelt - über >dies und das und jenes<-Muster.
Auch der Schlüssel zum Verstehen der vielfältigen
kontextuellen Bedeutungen >ein und desselben Wortes< ist
in solchen >dies und das und jenes<-Mustern zu finden,
die im Laufe des ganzen Lebens aufgebaut und kumulativ verwoben
weiterentwickelt werden.
Alternative Muster von Sprache zu Sprache
Wechseln wir nun von der Situation innerhalb einer Sprache
zum Erwerb einer Zweitsprache und zu den dabei entstehenden Beziehungen
zwischen zwei Sprachen.
Die Verbindung zwischen zwei Sprachen wird mit Hilfe von Bedeutungen
hergestellt. Übersetzt man, sucht man in der Zielsprache
das Laut- oder Schriftmuster, dessen Bedeutung der vorliegenden
kontextuellen Bedeutung eines Wortes oder einer Wortsequenz der
Ausgangssprache zu entsprechen oder ihr doch sehr nahe zu kommen
scheint.
Das Lernen einer weiteren Sprache besteht im Aufbau von alternativen
Mustern.
Alternative Lautmuster
Gegeben sei irgendeine Situation, z.B. ein Deutschsprechender,
der ein Lebewesen sieht, das er >einen Vogel< nennt.
Lernt er Englisch oder Französisch werden die Lautmuster
>a bird< bzw. >un oiseau< alternative
Lautmuster zu >ein Vogel<.
Verschiedene Bedeutungen der als identisch gedachten Wörter
Das >eins-zu-eins<-Prinzip der Logik des Vokabelheftes
impliziert, daß sich nur die Lautmuster unterscheiden,
nicht aber deren Bedeutungen.
Diese implizite Vorstellung ist schlicht falsch. Was die Logik
des Vokabelheftes impliziert, ist empirisch unmöglich.
Wenn ein Österreicher >Vogel< denkt, denkt
er nicht gleichzeitig und in einem die Bedeutung, die >oiseau<
für einen Franzosen oder >bird< für eine
Engländerin hat.
Nicht nur die Lautmuster >ein Vogel<, >a
bird<, >un oiseau< unterscheiden sich voneinander.
Diese Lautmuster sind oft auch mit jeweils anderen Vorstellungen
verbunden. Selbst wenn unter den vielen Bedeutungen des Wortes
- was häufig der Fall ist - die gleichen Vorstellungen vorhanden
sind, werden ja nach Situation andere unter diesen Vorstellungen
dominieren. Diese Vorstellungen sind dann, wie man in der Kognitionswissenschaft
sagt, verschieden stark >gebahnt<. Man beantworte
sich einfach die Frage, welche Rolle in der Bedeutung des Wortes
>Vogel< für einen Menschen aus Mitteleuropa z.B. Möwen,
Reiher oder gar Kolibris spielen. - Wohl keine sehr große!
Auch Begriffe sind nur Teilmuster von >dies und das
und jenes<-Mustern
Das Bedeutungsmuster von Vogel ist eben ein >dies und das
und jenes<-Muster. Und das gilt selbst dann, wenn man nicht
nur vielfältige verschiedene Vorstellungen, sondern auch
einen Begriff mit dem jeweiligen Wort assoziiert, sogar dann,
wenn dieser Begriff in allen drei Fällen - bei >Vogel<,
>bird<, >oiseau< - der gleiche sein
sollte. Denn auch Begriffe sind nur Teilmuster von >dies und
das und jenes<-Mustern.
Die Bedeutung von Wörtern läßt sich nicht
auf Zeichen, die es übersetzen können, reduzieren
Auch die Aussage von Charles Sanders Peirce, daß >die
Bedeutung eines Wortes nichts anderes ist als seine Übersetzung
mit Hilfe eines anderen Zeichens, das es vertreten kann<27
(meine Hervorhebung) ist - auch wenn Roman Jakobson sie zustimmend
übernimmt - letztlich falsch.
Nur wenn man ein Modell der Sprachen so baut, als ob die Sprachen
alleine auf der Welt wären, kann es zur Vorstellung kommen,
daß Bedeutungen ohne Hilfe von in der Lebenspraxis gemachten
nichtsprachlichen Erfahrungen entstehen und existieren können.
Ich warte noch immer auf jemanden, der mir beweisen kann, daß
z.B. die Bedeutung des Wortes >Computer< für
einen Menschen die gleiche ist - bevor er das erste Mal mit einem
Computer hantiert hat und danach. Was eine solche Veränderung
der Bedeutung und die sich daraus ergebende veränderte Bedeutung
mit der Übersetzung in andere Zeichen zu tun haben soll,
bleibt ungeklärt.
Die Peirce'sche Aussage ist aber auch logisch unhaltbar, führt
sie doch unzweifelhaft in einen unendlichen Regreß.
2.3. VERFLECHTUNGEN UND SAMMLUNGEN VON MUSTERN
Kulturelles Inventar, individuelles Repertoire und situationsspezifische
Register
In meinem Sprachgebrauch unterscheide ich zwischen dem Inventar
der Formen einer Kultur, dem Repertoire von Verhaltensweisen
von Individuen sowie Registern, die von Menschen entwickelt werden,
die Teile ihres Lebens in ähnlichen Situationen verbringen.
Das Inventar einer Kultur
Das Inventar einer Kultur enthält all das, was in dieser
Kultur entstanden ist und was zu den in dieser Kultur sozial
entwickelten oder in ihr sozial verbreiteten Formen gehört.
Auch wenn diese sozial entwickelten und sozial verbreiteten Formen
die Arten möglicher Gestaltung stark einschränken,
ist ihr Inventar doch von sehr großer Vielfalt und Mannigfaltigkeit. Das Inventar einer Kultur schließt
auch die von ihren Angehörigen entwickelten und sozial stereotypisierten
Verhaltensweisen ein, zu denen auch die in ihr gesprochenen Sprachen
und Sprachvarianten gehören.28
Das Repertoire einzelner Menschen
Die ganze Sammlung von Fühl-, Denk-, Sprech- und Verhaltensweisen
im Großen und im Kleinen, über die ein Mensch verfügt,
nenne ich sein Repertoire. Kein Mensch, der einer Kultur angehört,
kennt alle ihre Hervorbringungen, nicht einmal alle ihre typischen
Formen, geschweige denn alle ihre einzelnen gegenständlichen
oder gedanklichen Produkte. Das gesamte Repertoire eines einzelnen
Menschen ist somit immer wesentlich enger als das gesamte Inventar
der tradierten und gelebten Kultur.
Das gilt auch für die Sprachregister der einzelnen Angehörigen
einer Kultur. Der Aufbau der Sprache und Denkwelt einzelner Menschen
ist ein eklektischer Prozeß. Was ein Mensch an Sprache
und Vorstellungen erwirbt, hängt von seinen Lebensumständen,
von seiner natürlichen, menschlichen und menschengeschaffenen
Umgebung ab, mit der er im Laufe seines Lebens interagiert und
dabei Erfahrungen sammelt.
Es gibt niemanden, der eine Sprache vollständig beherrscht.
Auch >native speakers< nicht. Daher muß der
Mythos von den >native speakers< korrigiert werden. Das
idealisierende Denkmuster >native speakers< funktioniert
ungefähr so: Eine einzelne Person, ein >native
speaker<, wird der Gesamtheit aller Muttersprachler/innen,
wird den >native speakers< gleichgesetzt.
Es wird damit - sozusagen - ein >Gesamt-native-speaker<
geschaffen, der dann wieder auf die einzelne Person zurückprojiziert
wird. >Gesamt-native-speakers< gibt es aber in der
lebenden Welt nicht.
Ebensowenig gibt es Noam Chomskys >ideale Sprecher-Hörer<,
die noch darüberhinaus als >in einer völlig homogenen
Sprachgemeinschaft< lebend konstruiert werden.29 Da es weder solche Sprecher noch eine solche
Sprache gibt, fehlt einem solchen Denkgebäude - so schön
es auch sonst konstruiert sein mag - die Überprüfbarkeit
am Sprechen und an Sprachen als Phänomenen in der realen
Welt.
Während man zum Inventar einer Kultur nur Hervorbringungen
zählt, die dieser Kultur insoferne typisch sind, als sie
in ihrem Formenschatz öfters vorkommen, sind Repertoires
einzelner Angehöriger dieser Kultur keineswegs auf Komponenten
des Inventars ihrer jeweiligen Kultur beschränkt.
Die Register von Teilkulturen und ihrer Träger
Ein Mensch hat ein vielfältiges Repertoire, aber nicht
alle Komponenten dieses Repertoires sind jederzeit und überall
anwendbar, denn viele der Komponenten sind situationsspezifisch,
stammen aus verschiedenen Arten von Situationen und werden auch
nur in solchen Situationen eingesetzt. Man verhält sich
eben am Fußballplatz anders als in der Oper, in einer Disco
anders als am Opernball. Und man weiß, wie man sich wo
benimmt. Die Kenntnis verschiedener Register, ihre Unterscheidung
sowie die Fähigkeit, jenes Register zu aktivieren, das in
einer bestimmten Situation am Platze ist, gehört zu den
wichtigsten Aspekten sozialer Kompetenz.
Register sind also zusammenhängende und miteinander verwobene
Teilgefüge von Verhaltensmustern, die von all jenen Menschen,
die sich in einer Teilwelt bewegen, in eben diesen verschiedenen
Teilwelten eingesetzt und als dieser jeweiligen Teilwelt zugehörig
empfunden werden. Solche Register sind der Verhaltensaspekt der
jeweiligen Teilkultur, in der sie entstehen.
Verbreitungen, Überlappungen und Verflechtungen von
und zwischen Mustern
Aus den mehr oder weniger weit verbreiteten Komponenten der
Repertoires Einzelner und der Register von Teilkulturen entsteht
und besteht das Inventar einer übergreifenden Kultur.
In dieser unendlichen Mannigfaltigkeit gibt es keine zwei
Muster, die identisch wären: nichts ist gleich, vieles sehr
ähnlich. Die Prozesse sozioindividuellen Lernens, Stereotypisierung
durch Anpassung von Menschen an andere Menschen, lassen viele
der einzelnen Komponenten des jeweiligen Formenschatzes der Repertoires
Einzelner denen anderer Einzelner sehr, sehr ähnlich werden,
es entstehen unzählige Überlappungen und Verflechtungen.
In der hier vertretenen Sicht sind es gerade diese Verbreitungen,
Überlappungen und Verflechtungen von spezifischen Verhaltensmustern
und deren Umsetzungen in Lebenspraxis und Verhaltensweisen, die
zusammen das, was wir Kulturen nennen, in ihren je gegenwärtig
gelebten Verwirklichungen ausmachen.
3. DIE ALTERNATIVEN DENKMUSTER ANDERER
SPRACHEN UND DER UMGANG MIT FREMDEM
3.1. >EIN GANZES< ODER
>UN ENSEMBLE<
Um uns der Problematik alternativer Denkmuster in verschiedenen
Sprachen zu nähern, wollen wir jetzt ein Doppelbeispiel
betrachten, das aus der deutschen Übersetzung eines Vortrages
von Jacques Derrida >Die Einsprachigkeit des Anderen<
und dem aus diesem Vortrag hervorgegangenen Buch »Le
monolinguisme de l'autre« stammt.30
Derrida spricht dort an einer Stelle davon,
wie im Algerien seiner Jugend die Schüler >der Pädagogik
des Französischen unterworfen und von ihr geformt<
wurden. Und dann setzt er - in bezug auf die Gruppe der Schüler
- fort:
»À l'intérieur de cet ensemble [...]
on peut distinguer l'un des sous-ensembles auquel j'appartenais
jusqu'à un certain point.«
Der französischen Version steht folgende deutsche Übersetzung
gegenüber:
»Im Inneren dieses Ganzen, [...] kann man
einen Teilbereich unterscheiden, dem ich selbst angehörte.«31
Hier wird also >cet ensemble< mit >dieses
Ganze< übersetzt.
Gegenüberstellung der Vorstellungen >un ensemble<
- >ein Ganzes<
Die Struktur der Vorstellungen >un ensemble<
und >ein Ganzes< ist wahrlich verschieden.
Die Vorstellung >un ensemble< weist deutlich
und unabweisbar darauf hin, daß hier an Mehreres, an eine
Mehrzahl gedacht wird. Ein >Ensemble< ist als >aus
voneinander unabhängigen Einheiten bestehend< gedacht,
und zwar völlig unabhängig davon, ob die einzelnen,
die zusammen die Mehrzahl bilden, gleich, ähnlich oder völlig
verschieden sind, und ebenso völlig unabhängig davon,
ob und wie die einzelnen, die zusammen die Mehrzahl bilden, miteinander
zusammenhängen.
Die Vorstellung >ein Ganzes< löst ein völlig
anderes Denkmuster in uns aus, die Vorstellung, daß wir
>etwas Einheitliches<, >etwas Ungeteiltes<
vorfinden, das man auch nicht teilen soll.
Die Vorstellung >ein Ensemble< transportiert
sehr schön, daß wir >zusammennehmen<,
daß wir >Gruppen bilden< - hier von Schülern
-, daß >wir Mehreres zu Einem machen<, und
weicht damit deutlich von der Vorstellung ab, daß wir >etwas
Einheitliches<, >etwas Ganzes vorfinden<.
>un sous-ensemble auquel j'appartenais jusqu'à
un certain point<
Der Unterschied wird dadurch noch deutlicher, daß Derrida
in der Buchversion auch klarstellt, daß man einem Ensemble
nur >bis zu einem bestimmten Punkt< - allgemeiner:
in einer bestimmten Hinsicht - angehört, daß es also
möglich und häufig ebenso selbstverständlich ist,
in anderer Hinsicht, zu einem anderen Zweck, anders zu gruppieren.
Zur Ableitung der Gleichheit verschiedener Sachen aufgrund
der Bezeichnung dieser Sachen mit demselben Wort
Überträgt man dieses Beispiel (dadurch, daß
man die im Zitat vorkommenden Schüler durch Vorstellungen
ersetzt) in die Sphären des Denkens und des Spracherwerbs,
beschreibt dieser Kontrast zwischen >ensemble< und
>Ganzes< in griffiger Weise den Unterschied zwischen
>dies und das und jenes<-Bedeutungen< und jenen
Vorstellungen, die wir mit dem Wort >Begriff< verbinden.
Hier gibt es darüberhinaus ein Phänomen, das es
zusätzlich erleichtert, die Bedeutungen eines Wortes als
ein Ganzes zu sehen: Wenn man verschiedene Sachen mit demselben
Wort bezeichnet, werden diese Sachen implizit als in irgendeinem
Sinne gleich, ja als identisch eingeschätzt.
Identische Sachen gibt es aber nicht. Bei den Vorstellungen
>identisch< und >Identität< (im Sinne des >Ist-gleich<-Zeichens
in Anwendungen von der Art >A = B<) handelt es sich, wenn
auf eine Mehrzahl angewendet, um pure Fiktionen - um Fiktionen,
von denen man überdies - und fälschlicherweise - annimmt,
daß sie für Denkvorgänge unabdingbar nötig
sind.
Dieses Phänomen bedarf einer genaueren Analyse: Wir verwenden
Wörter, die Gegenstände bezeichnen, um unsere Erfahrungen
mit mehreren in irgendeiner Weise ähnlichen Gegenständen
zu gruppieren und zusammenzufassen, um denkend damit umgehen
und diese Erfahrungen mit anderen besprechen zu können.
Bis hierher ist alles in Ordnung. Doch die nächste Operation
besteht darin, daß wir aus der Tatsache, daß wir
solche Gegenstände gleich bezeichnen, auch ableiten, daß
diese Gegenstände daher auch gleich sind oder sein müssen.
Die Schrittfolge geht von >in irgendeiner Weise ähnlich<
über die Gleichbezeichnung von Ähnlichem zur Einschätzung
des Gleichbezeichneten als gleich.
Der implizite Schluß - im Übergang von der Gleichbezeichnung
des Ähnlichen zur Einschätzung des Gleichbezeichneten
als gleich - lautet: Wenn man etwas (berechtigt) gleich bezeichnet,
ist es auch gleich. Oder mit anderen Worten: Wenn man etwas durch
ein und dasselbe Wort bezeichnet, ist es auch ein und dasselbe.
Dieser Schluß ist eindeutig ein Trugschluß, der durch
nichts zu rechtfertigen ist. Er beruht auf einer Art von Rückprojektion
der Praxis des Gleichbezeichnens und bewirkt ein Gleichmachen
zur zweiten Potenz.
Zur Entstehung der Homogenitätsvorstellung
Doch ist der beschriebene fehlleitende Prozeß mit der
Zuweisung von Identität an das Gleichbezeichnete noch nicht
an seinem Ende angelangt.
Er findet seine Fortsetzung in der aus der Zuweisung von Identität
direkt abgeleiteten Homogenitätsvorstellung. Wenn alles,
was wir mit ein und demselben Wort bezeichnen, identisch geworden
ist, enthält die Gruppe der mit diesem Wort bezeichneten
Gegenstände oder Personen nur mehr Gleiches - die Gruppe
ist zu einem Ganzen von Gleichem oder Gleichen, sie ist im Inneren
homogen geworden. Damit führt der Trugschluß >Gleichbezeichnetes
ist gleich< auch zur Umwandlung von Ensemble-, Gruppen-
oder Sammelvorstellungen in Vorstellungen von homogenen Ganzheiten.
Fehlerhafte Denkoperationen, durch die das >Gleichmachen
durch Gleichbezeichnen< auf dem Wege einer Rückprojektion
auf das Gleichbezeichnete verdoppelt wird, bilden also auch die
Basis der Homogenitätsvorstellung und ihrer negativen Auswirkungen.
Die automatische Zuschreibung von Merkmalen
Die quasi-automatische Anwendung des Trugschlusses >Gleichbezeichnetes
ist gleich< führt zu weiteren Fehlschlüssen.
Der in unserem Zusammenhang hervorstechendste Fehlschluß
lautet: >Wenn A, dann alle Merkmale von A< bzw. >Wenn
die Bezeichnung A richtig angewendet ist, dann muß das
Bezeichnete auch alle Merkmale von A haben<.
Die Denkweise des >entweder - oder<
Während es für das Zusammenfassen zu einer Gruppe
eine große Zahl der verschiedensten Kriterien gibt, die
von Menschen tagtäglich angewendet werden, gibt es bei >gleich<
nur mehr ein einziges Kriterium: Ja oder Nein, gleich oder nicht
gleich.
Die Reduzierung auf ein einziges Kriterium, die aus der Verbindung
des >eins-zu-eins<-Prinzips mit dem Trugschluß >Gleichbezeichnetes
ist gleich< und der daraus abgeleiteten Homogenitätsvorstellung
folgt, fördert auch die im westlichen Denken dominante Denkweise
des Gegenüberstellens und der Anwendung des >Ja-Nein<-Prinzips
auf das Gegenübergestellte, bei der das >Ja-Nein<-Prinzip
die Form >entweder-oder< annimmt.
Auch dieses Phänomen der im westlichen Denken so stark
hervortretende Betonung der Zweiheit bedarf einer weiteren Analyse.
Es gibt mehrere Arten von Erfahrungen in der Lebenswelt, die
hier eine bedeutende Rolle spielen. Eine davon ist die oben bereits
erwähnte Erfahrung von Konflikten zwischen zwei sich um
dasselbe streitenden Personen oder Gruppen. Eine andere entsteht
bei einer weit verbreiteten Art des Rückblicks auf eigene
bereits abgeschlossene Handlungen, bei der die beim Handeln in
den meisten Fällen und in den meisten Schritten vorhandenen
mehreren Alterna tiven zusammengefaßt und der tatsächlich
durchgeführten Handlung als eine einzige gegenübergestellt
werden. Diese Erfahrungen werden aus der Welt des Handelns in
die ganz anders geartete Welt des Denkens projiziert und führen
dort zur Dominanz der Zweiheit in der Form jener Art von Gegenüberstellung,
die andere - ebenso mögliche und berechtigte - Gegenüberstellungen
ausschließt.
Die Grundmechanismen, auf denen die Welt des Denkens beruht,
kennen aber Zweiheit nicht oder doch nur sehr selten. Die im
Gehirn ablaufenden Prozesse sind in der bei weitem überwiegenden
Zahl aller Fälle plurifurkative Prozesse, Prozesse, bei
denen die Flüsse von einem Neuron an viele Neuronen und
von vielen Neuronen an ein Neuron weiterlaufen, die also dem
Prinzip >Eines an Vieles und Vieles an Eines< folgen.
Daß Denken in Gegenüberstellungen nicht nach der
Denkweise des >entweder - oder< erfolgen muß, sondern
ein Produkt unserer westlichen Kultur ist, in der es weit über
den berechtigten Anwendungsbereich hinaus eingesetzt wird, läßt
sich am Beispiel von Yin und Yang im chinesischen Denken zeigen.
Auswirkungen auf den Umgang mit Fremden
Vieles von dem, was uns im Umgang mit Fremden Sorgen macht
und uns veranlaßt, über dieses Thema gemeinsam nachzudenken,
wie nationale Stereotypen, die Zuweisung gleicher Merkmale an
alle Angehörigen einer Gruppe oder Kultur und die Angst
vor allem Fremden und allen Fremden finden in diesen sozioindividuell
eingespielten Mechanismen: in der Denkweise des >entweder-oder<,
im Trugschluß >Gleichbezeichnetes ist gleich<,
in der aus diesem Trugschluß abgeleiteten Homogenitätsvorstellung
und der auf der Homogenitätsvorstellung basierenden automatischen
Zuschreibung von Merkmalen ihre kognitiven Stützen.
3.2. VON DER DENKWEISE DES >EINS ZU EINS<-PRINZIPS
ZUR DENKWEISE KULTURELLER ALTERNATIVEN IN DENKEN UND SPRACHE
Der wohl wichtigste Unterschied zwischen der Denkweise der
Einsprachigkeit und der Denkweise der Mehrsprachigkeit besteht
darin, was einem bekannt, vertraut und selbstverständlich
ist.
Lernen, Sprache und Denken sind sozioindividuelle Prozesse
...
Was einem bekannt, vertraut und selbstverständlich ist,
entsteht im nie unterbrochenen Verarbeiten von Erfahrungen, im
lebenslangen Lernen.
Was wir Lernen nennen, sind Vorgänge, die in einzelnen
Menschen ablaufen, in die sowohl ausschließlich individuelle
Erfahrungen von Einzelnen als auch soziale Erfahrungen eingehen,
also Erfahrungen der jeweiligen einzelnen Menschen,
die aus Anlaß von Interaktionen mit anderen und von Interaktionen
zwischen anderen Menschen gewonnen wurden. Lernen als ausschließlich
individuelle Prozesse zu denken, führt daher in die Irre.32 Ich bezeichne Lernen von einem systematischen
Gesichtspunkt aus daher als sozioindividuelle Prozesse.
Auch Muster der Sprache - Lautmuster, Bedeutungsmuster und
ihre Verbindungen -, ihre Aufnahme, ihre Anwendung und ihre Weitergabe
von einer Generation zur nächsten, sind sozioindividuelle
Prozesse.
Die weitverbreitete Vorstellung, nach der Sprachen als von
Menschen unabhängig gegeben sind, führt ebenfalls in
die Irre. Sie ist nur insoweit zutreffend, als Sprachen von konkreten
einzelnen Menschen unabhängig sind. Aber dadurch werden
sie nicht von allen einzelnen Menschen unabhängig. Denn
ohne daß irgendwelche einzelnen Menschen eine Sprache sprechen,
schreiben oder verstehen, kann es zwar Zeichen als von Menschen
geschaffene Artefakte geben, aber sie verweisen so lange auf
nichts, als niemand sie versteht, als sie für niemanden
Bedeutung haben. Von den drei Komponenten eines Wortes fehlen
dann zwei. Sprachen gibt es nur als pluri-individuelle Instrumentarien,
als sozioindividuelle Prozesse.
... auch ohne Anwesenheit anderer Menschen
Aber nicht nur Lernen und Sprache, auch das, was wir Denken
nennen, sind sozioindividuelle Prozesse. Auch dort und dann,
wenn weder ein Dialog noch eine andere Art von Interaktion mit
anderen Menschen beteiligt ist.
Jean-Paul Sartre formuliert dies am Beispiel seiner Kindheit
so:
»Meine Wahrheit, meinen Charakter und meinen Namen
hatten die Erwachsenen in der Hand; ich hatte gelernt, mich mit
ihren Augen zu sehen; ... Waren sie nicht da, so hinterließen
sie ihren Blick, der eins wurde mit dem Licht; ich lief und hüpfte
herum unter diesem Blick, der mir meine Natur ... aufzwang«33
Prägende Wirkungen der Ergebnisse sozioindividueller
Prozesse auf Einzelne
Was Sartre hier unter der poetischen Metapher >Blick<
zusammenfaßt, meint wohl die Verhaltensweisen, durch die
jene Menschen, die ihn am meisten beeinflußt haben, auf
ihn einwirkten, die in seinem Umfeld vorherrschenden kulturell
geprägten sozioindividuellen Verhaltensweisen aller Arten,
die als Teil seiner Interaktionen mit diesen Menschen von ihm
aufgenommen und zu einem Teil seiner Natur wurden.
Beim Sprechen und Hören einer Sprache handelt es sich
ja immer nur um in umfassendere Tätigkeiten verwobene Teile
eben dieser Tätigkeiten.34 Das Gesamtverhalten
aller an der Verwendung der Sprache Beteiligten formt die Sprache.
Die Sprache, die sich daraus ergibt, ist eine verwobene Sammlung
ihrerseits verwobener sozioindividueller Muster, die selbst wieder
in die vielfältigen Muster der Denk-, Fühl-, Handelns-
und Lebensweisen der Menschen, die ihre Träger sind, verwoben
sind.
Eine Sprache und die durch sie auf je spezifische Weise zusammengehaltenen
Bedeutungsmuster prägen die Erfahrungen der Menschen, die
sie sprechen und in deren Denken sie vorkommen. Sprache und Bedeutungsmuster
sind wichtige Teil des >Blicks, der mir meine Natur aufzwang<.
Verschieden gegliederte, sich überlappende Bedeutungs(teil)felder
in verschiedenen Sprachen
Geht man von Wörtern in verschiedenen Sprachen aus, die
als die >richtige< Übersetzung der jeweils anderen
angesehen werden (z.B. von den obenerwähnten vielfältigen
Übersetzungen des Wortes >Muster<), so zeigt sich,
daß die kulturellen sozioindividuellen Prozesse u.a. dazu
führen,
- daß sich das Gesamtfeld aller Bedeutungen eines einzelnen
Wortes der einen Sprache selten mit dem Feld aller Bedeutungen
eines Wortes einer anderen Sprache deckt,
- daß das gesamte Bedeutungsfeld eines einzelnen Wortes
der einen Sprache in einer anderen Sprache oft in mehrere Teilfelder
zerlegt ist, die jeweils mit einem von mehreren verschiedenen
Wörtern als deren (Teil-)Bedeutungen verbunden sind,
- daß es in den jeweiligen Sprachen verschieden viele
Worte gibt, auf die sich ein (solches) gesamtes Bedeutungsfeld
verteilt,
- daß die Teilfelder in den jeweiligen Sprachen verschieden
abgegrenzt sind und diese Zuordnungen verschiedenen Strukturierungsprinzipien
folgen und
- daß es in einer Sprache Wörter mit Bedeutungen
gibt, für die es in anderen überhaupt kein geeignetes
Wort gibt.
Keine Sprache kann alles - Bedeutungsmuster sind den Sprachen
spezifisch
Allgemeiner formuliert kann man feststellen,
- daß Bedeutungen keiner natürlichen - überall
auf der Welt gültigen - Art der Gruppierung unterliegen,
- daß welche Bedeutungen zusammengenommen und so zusammengenommen
mit Lautmustern verknüpft sind, von Sprache zu Sprache verschieden
ist,
- daß es auf unserer Welt normal ist, daß es alternative
Anknüpfungen von verschieden gegliederten - sich oft überlappenden
- Bedeutungsfeldern gibt,
- daß es auf unserer Welt normal ist, daß man in
verschiedenen Sprachen und in verschiedenen Kulturen verschieden
denkt.
3.3. DAS ANDERE - BEKANNT, VERTRAUT, SELBSTVERSTäNDLICH
Die Selbstverständlichkeit des Anderen
Eine andere Sprache zu lernen, heißt auch, die Selbstverständlichkeit
des Anderen zu erfahren.
Wenn man in der Schule nach der Logik des Vokabelheftes lernt,
wird einem ein weiterer - und das heißt gleichzeitig ein
anderer - verbaler Zugang zu einer Bedeutung eröffnet.
Hat man die Bedeutung eines Wortes in der Zweitsprache zuerst
als identisch mit der des Ausgangsworts in der Erstsprache angenommen,
entsteht Schritt für Schritt - wenn man die Sprache lesend
aufnehmend oder kommunikativ verwendet - für dieses Wort
einerseits ein eigenes Gefüge von damit verbundenen Schrift-
oder Lautmustern und andererseits ein sich aus den damit verbundenen
anderen Wörtern und/oder lebensweltlichen Kontexten ergebendes
teilweise abweichendes Gefüge von Bedeutungen. Die einzelnen
Verbindungen und die Gefüge von Mustern werden einem dabei
zuerst bekannt, dann vertraut und nach einiger Zeit selbstverständlich.
Auf diese Weise entstehen Sequenzen, Teilstücke und Teilgewebe
eines anderen Sprachregisters.
Pendeln zwischen Sprach- und Denkwelten
Hat man begonnen, die neue Sprache, wann immer der Bedarf
auftritt, zu verwenden, wird das Umsteigen von der einen zur
anderen Sprache ähnlich jenem Vorgang, der abläuft,
wenn man von einer unter mehreren Rollen, die man im Alltag einnimmt,
zu einer der anderen wechselt. Der Übergang findet einfach
statt. Man ist sich des Wechsels zwar häufig bewußt,
die anderen grammatischen Formen, die anderen Bedeutungsmuster,
die unterschiedlichen Redewendungen werden jedoch unreflektiert
ganz selbstverständlich verwendet.
Ergebnis ist ein selbstverständliches Akzeptieren der
Gleichberechtigung der anderen Sprache und der Gleichwertigkeit
ihrer unterschiedlichen Muster, ihres unterschiedlichen Funktionierens
für die gleichen Zwecke. Das Unterschiedliche, das Andere
ist in dieser Hinsicht selbstverständlich geworden.
Das treffendere Wort der anderen Sprache
Durch die teilweise abweichenden Bedeutungsgefüge der
zweiten Sprache sind aber auch die aktivierbaren Unterscheidungen
zahlreicher, die Welt, die man sich gebaut und zu der man Zugang
hat, ist weiter und dichter geworden.
Sucht man beim Formulieren ein passendes Wort, wird es nun
immer wieder vorkommen, daß einem ein Wort der anderen,
gerade nicht gesprochenen Sprache einfällt, und man lieber
dieses zu einer anderen Sprache gehörende Wort als ein Wort
der Sprache verwenden würde, in der man gerade mit anderen
spricht.
Dieser Vorgang, den man als Hereinholen von (Denk-)Mustern
einer anderen Sprach- und Denkwelt in die gerade gesprochene
Sprache bezeichnen kann, wird in einem Kontext, in dem man annimmt,
daß die Kommunikationspartner der anderen Sprache nicht
mächtig sind, unterdrückt. Ist es wahrscheinlich, wie
das in Diskussionen unter Spezialisten eines Fachgebiet oft vorkommt,
daß die anderen am Gespräche Beteiligten die entsprechenden
Wörter der anderen Sprache ebenfalls kennen, ist es nicht
mehr unüblich, ein solches Wort in den Duktus der Erstsprache
aufzunehmen und es einfach auszusprechen. Sprachmischungen, die
die Form von Einsprengseln aus einer anderen Sprache annehmen,
sind die Folge.
Auch wenn dies unter Sprachpuristen verpönt ist, handelt
es sich doch um einen ganz normalen Prozeß, jenen Prozeß,
der zur Fremd- und Lehnwortbildung in einer Sprache führt,
um einen Prozeß, der sich im übrigen auch von den
Prozessen der Verwendung von Fachwörtern in alltagssprachlichen
Diskursen praktisch nicht unterscheidet.
Unterdrückt man die Verwendung des treffenderen Wortes
in solchen Kontexten und nimmt man Zuflucht zu einem weniger
treffenden Wort oder zu einer aufwendigeren Umschreibung, handelt
es sich dabei um vorauseilenden Gehorsam an die Praxis der Gruppe,
um Gehorsam gegenüber einer nationalen Standardisierung
der Sprache oder um die Befolgung einer ästhetischen Vorstellung
- lauter Vorstellungen, die mit dem Funktionieren von Sprache
als Kommunikationsmittel nichts zu tun haben.
All dies belegt, daß es auch selbstverständlich
wird, daß Wörter einer anderen Sprache treffender
sein können als die der eigenen Erstsprache.
Geeignete Beispiele auf jeder Stufe des Erwerbs einer weiteren
Sprache
Die Selbstverständlichkeit einer anderen Gliederung der
Welt beim Denken in einer anderen Sprache zeigt sich aber nicht
nur, wenn man über diese Fragen nachdenkt, sondern sie zeigt
sich jedem, der eine weitere Sprache lernt.
Sie zeigt sich auch nicht erst dann, wenn man im Erlernen
einer Sprache schon weit fortgeschritten ist, sondern schon oft
sehr früh im Prozeß des Spracherwerbs. Im Englischunterricht
z.B. wird einem das schon klar, wenn man nach einem geeigneten
englischen Wort für das deutsche Wortes >groß<
sucht, und feststellen muß, daß hier - je nach Kontext
- meist unter den Wörtern >big<, >tall<,
>large<, >great< und >grand<
gewählt werden muß.
Es gibt also einfache Beispiele, die man schon früh,
und solche, die man erst später vermitteln kann. Auf jeder
Stufe des Spracherwerbs und bei jeder Kombination zweier Sprachen
gibt es geeignete Beispiele. Man muß sie nur suchen35und herausarbeiten.
4. ZUM ABSCHLUSS
Sprachen lernen - ein Potential für
einen anderen Umgang mit Fremdem
Was man beim Sprachenlernen erwirbt, ist
viel mehr als die Fähigkeit mit Menschen anderer Muttersprachen
zu kommunizieren und Texte in deren Sprache zu lesen. Auch das
wäre an sich schon mehr als genug, um den dafür erforderlichen
Aufwand zu rechtfertigen.
Lernt man Sprachen, lernt man andere Denkwelten kennen, erwirbt
man Teile des kulturellen Erbes der Menschheit, zu denen es auf
anderen Wegen keinen Zugang gibt. Damit verändert sich auch
die eigene Welt, sie wird voller und weiter. Man lernt Weltsichten
und Unterscheidungen kennen, die es in der Welt der eigenen Erstsprache
nicht gibt. Dadurch eröffnen sich Zusammenhänge, die
man vorher nicht sehen konnte, da sie in der Erstsprache nicht
zugänglich waren. All dies wird einem bekannt, vertraut
und bald selbstverständlich.
Dabei lernt man auch, daß die Prägung des Denkens
durch eine Sprache allein einem nicht alles erschließt,
was es an Interessantem, Wichtigem und Schönem in der Welt
gibt. Das Andere wird dadurch interessant - manches wird wertvoll,
manches wird abgelehnt, manches bleibt unverständlich. Wie
immer auch die einzelne Erfahrung bewertet werden mag, das Andere
hört auf, homogen zu sein, eine automatisch negative Bewertung
des Anderen wird dadurch erschwert.
Durch die zusätzlichen Einsichten in die Zusammenhänge
der Welt, die man beim Lernen anderer Sprachen gewinnt, wird
man auch sicherer, man wird von vielem nicht mehr überrascht,
wenn es auftritt. Beim Sprachenlernen entwickelt man auch verschiedene
Strategien, mit Neuem umzugehen, das von dem in der eigenen Kultur
Üblichen abweicht.
Sprachen lernen ist - über die direkte Nützlichkeit
der gelernten Sprache hinaus - ein Königsweg zum Erwerb
größerer Selbstsicherheit, ein Königsweg für
einen respektvolleren Umgang mit Fremdem und mit Fremden, ein
Königsweg, der hiefür allerdings auch noch viel bewußter
eingesetzt werden könnte und sollte.
Ein Caveat ...
Es ist eines, alternative Denkmuster zu kennen, sie eingeübt
und zur Verfügung zu haben und sie im Kontext der jeweiligen
Sprache als selbstverständlich und ohne negative Bewertung
zu verwenden.
Daraus folgt jedoch nicht automatisch, daß man verschiedene
Denk- und Verhaltensweisen anderer Menschen im Alltag als selbstverständlich
und ohne negative Bewertung einschätzt, entsprechend fühlt
und sich entsprechend verhält.
Sprachen lernen und sie verwenden sind (Teile von) Tätigkeiten
unter vielen anderen. In anderen Kontexten und Gruppen, in denen
und mit denen man meist wesentlich mehr Zeit verbringt, dominieren
oft andere Vorstellungen und Bewertungen, die nicht so leicht
zu überwinden sind.
... und ein Aufruf zu einer konzertierten Aktion
Dennoch geht es - wie schwierig es auch ist, Einstellungen
und Verhaltensweisen zu ändern - darum, das Potential für
einen verständnisvolleren und respektvolleren Umgang mit
Fremdem und mit Fremden, das im Lernen von Sprachen vorhanden
ist, besser zu nützen.
Der Sprachunterricht scheint - zusätzlich zu den oben
entwickelten inhaltlichen und strukturellen Überlegungen
- aus mehreren Gründen große Chancen in dieser Richtung
zu bieten:
- der Sprachunterricht ist jene Sparte der Weiterbildung, die
anteilsmäßig die größte Zahl von Menschen
erreicht;
- Menschen, die Sprachen lernen wollen, sind bereit, sich auf
etwas, von dem sie wissen, das es in mancherlei Hinsicht anders
ist, einzulassen;
- Menschen, die in der freiwilligen Weiterbildung Sprachen
lernen wollen, sind oft höher motiviert als Schüler,
für die es einen Teil eines Pflichtprogrammes darstellt;
- Menschen, die Sprachen lernen, wollen diese Sprachen auch
irgendwie verwenden. Das führt oft - wenn auch am Anfang
oft zögernd - dazu, daß Kontakte mit Personen anderer
Herkunft entstehen und dabei im Alltag solcher Kontakte mehr
über eine der Kulturen des Sprachbereiches gelernt wird,
als je im Unterricht vermittelt werden kann - eine Möglichkeit,
die oft erst durch den vorangehenden Sprachunterricht eröffnet
wird.
Die Volkshochschule Brigittenau wird die Zielsetzungen, die
dem Brigittenauer Sprachen-Symposium 1997 zugrunde liegen, weiter
verfolgen und sich bemühen, sie auf eine breitere Basis
zu stellen und Zug um Zug - sowohl durch die Entwicklung geeigneter
Lernschritte und Materialien als auch in bezug auf die theoretischen
Grundlagen - zu konkretisieren. Wir sind uns sicher, daß
sich dabei Fortschritte in der angestrebten Richtung erzielen
lassen.
Wir würden uns freuen, wenn Sie sich mit uns in Verbindung
setzen würden, falls Sie Interesse an der Mitwirkung an
einem solchen gemeinsamen und gemeinsam zu gestaltenden Prozeß
haben.
© Arne Haselbach 1997
Notes
1 Arne Haselbach »Alternative Denkmuster
- Über ihren Erwerb beim Sprachenlernen und ihr Potential
für den Umgang mit Fremdem« in: Andreas Paula und
Thomas Fritz (Hg) »Sprachen - Brücken zum Fremden«,
Brigittenauer Sprachen-Symposium 1997, Edition Volkshochschule,
Wien 1998, S. 35-91
2 »L'autonomie relative du modèle
récepteur est illustré par la priorité temporelle
très répandue de l'acquisition passive du langage
chez les enfants comme chez les adultes.« (Roman Jakobson
»Essais de linguistique générale«,
Band 1, Paris 1963, S. 94).
3 Dies sind Erfahrungssammlungen aus denen
die Bedeutungen einiger Arten jener Wörter entstehen, die
nicht zur Bezeichnung von Gegenständen dienen.
4 Zu anderen Arten der Verwendung des
Wortes >Muster< siehe unten.
5 Die Wortformel >hinweisendes Lehren
der Wörter< stammt von Ludwig Wittgenstein. Siehe »Philosophische
Untersuchungen«, §§6ff.
6 Zur Problematik mehrerer fast gleichzeitiger
Erfahrungen innerhalb der (kurzen) Durée (im Sinne von
Henri Bergson) siehe Arne Haselbach »Artists and their
Public - On Relations and their Making« in: »Artists
facing Society«, Estonian National Commission for Unesco,
Tallinn 1995, S. 66-80.
7 Auf das Lernen mit Hilfe von Fotos,
Filmen und Videos kann ich aus Platzmangel hier nicht eingehen.
Es sei nur betont, daß diese Formen der Abbildung in einigen
Dimensionen der Erfahrung der Lebenswelt ähnlicher sind
als die im folgenden behandelten stark vereinfachten Zeichnungen
und daher in einigen Aspekten andere strukturelle Auswirkungen
auf das Denken haben.
8 Die Formulierung >kontrollfähig
hineinragen< stammt von Karl Mannheim. Siehe »Strukturen
des Denkens«, hsg. D. Kettler, V. Meja und N. Stehr, Frankfurt/M
1980, S. 62. Daß dies möglich ist, beruht auf der
Verarbeitung mehrerer fast gleichzeitiger Erfahrungen innerhalb
einer kurzen Durée.
9 Jean-Paul Sartre »Die Wörter«,
Reinbek bei Hamburg 1968, S. 30 [teilweise Neuübersetzung].
10 Aus einem Brief von Henri Matisse an
Camoin vom 2. Mai 1918. Siehe Henri Matisse Ȇber
Kunst«, hsg. Jack D. Flam, Fußnote zu Seite 35.
11
»Certains types d'explication
exercent une attraction irrésistible. ... En particulier
une explication du type: >Ceci, c'est en réalité
seulement cela<.« Ludwig Wittgenstein »Leçons
et Conversations sur l'esthetique, la psychologie et la croyance
religieuse«, Paris 1971, Teil III, §22.
12
Siehe Ludwig Wittgenstein
»Philosophische Untersuchungen«, §§ 11
und 122.
13
Hierin dürfte der wichtigste
Grund liegen, warum wir in unserem Denken so häufig Prozesse
auf Zustände reduzieren, wie Norbert Elias immer wieder
kritisch hervorhebt.
14
»les locuteurs savent
que les deux, et même les innombrables répétitions
de guerre sont, au-delà de toute variation de sens et
de phonie, les répliques d'une même entité.«
Tullio de Mauro, »Introduction« in: Ferdinand de
Saussure »Cours de linguistique générale«,
Ed. préparée par Tullio de Mauro, Paris 1985, p.
vi.
15
Duden-Lexikon (rororo Version, Mannheim 1966), Concise
Oxford Dictionary (1964), Philosophisches Wörterbuch
(Berlin 1964), Petit Robert (Paris 1988), Petit Larousse
(Paris 1924).
16
>(of) two mutually exclusive
things< Concise Oxford Dictionary (1964) bzw. >situation
dans laquelle il n'est que deux partis possible< Petit
Robert (Paris 1988).
17
>deux assertions dont
une seule est vraie<, Petit Robert (Paris 1988).
18
>l'alternance< - un
mouvement régulier qui a lieu dans un sens puis dans l'autre
sense< Petit Robert (Paris 1988), >qui agit tour
à tour< Petit Larousse (Paris 1924), >courant
alternatif<, >pendule<, >piston< Petit Robert
(Paris 1988).
19
Enthalten z.B. in Concise
Oxford Dictionary (1964) - Nicht enthalten z.B. in Duden-Lexikon
(rororo Version, Mannheim 1966), Petit Robert (Paris 1988).
20
Philosophisches Wörterbuch (Berlin 1964) bzw. Concise Oxford
Dictionary (1964).
21
Wenn ein Wort den Sinn eines
Kollektivsingulars hat, verwende ich an vielen Stellen dieses
Textes eine grammatikalisch unübliche Verbindung eines solchen
Singulars mit einem Mehrzahlprädikat, insbesondere an solchen,
wo eine Verbindung mit einer Einzahl das Denken tendentiell fehlleitet.
22
Ludwig Wittgenstein, Philosophische
Untersuchungen, § 43.
23
Modellartige Vorstellungen
bilden eine der Großgruppen, die wir unter der Bezeichnung
>Begriffe< zusammenfassen.
24
Ludwig Wittgenstein, Philosophische
Untersuchungen, § 202.
25
Daher geht auch die häufig
verwendete Argumentation, die auf dem Stichwort >Beliebigkeit<
aufgehängt wird, einfach am Problem vorbei. Stellvertretend
für diese Diskussion siehe Umberto Eco »Die Grenzen
der Interpretation«, München 1995, S. 16ff.
26
Hier geht es um Zuordnungen
von vorbewußt bereits als >ähnlich< Eingestuftem,
nicht um die Entstehung solcher vorbewußter Einstufungen.
Die Basis von Prozessen, die zu solchen vorbewußten Einstufungen
als >ähnlich< führen, ist in der neuronalen Verarbeitung
von Sinneseindrücken angelegt, insbesondere auch darin,
daß es viele verschieden spezialisierte Neuronen gibt,
die nur aktiviert werden, wenn sich im Verarbeitungsprozeß
sehr spezifische Relationen aus - oft schon sehr wenigen - über
die Rezeptoren aufgenommenen und weiterverarbeiteten Sinnesinputs
ergeben.
27
»Pour le linguiste
comme pour l'usager ordinaire du langage, le sens d'un mot n'est
rien d'autre que sa traduction par un autre signe qui peut lui
être substitué, spécialement par un autre
signe >dans lequel il se trouve plus complètement développé<,
comme l'enseigne Peirce, le plus profond investigateur de l'essence
des signes.« in: Roman Jakobson »Essais de linguistique
générale«, Paris 1963, Band 1, S. 79. - An
anderer Stelle, wo er dieselbe Frage behandelt, ergänzt
Jakobson: »Voilà, sans aucun doute, quelque chose
qui devrait être le point de départ de toutes nos
discussions futures sur le traitement linguistiques des significations
..« (Jakobson, loc. cit., S. 40).
28
Da ich mich in diesem Beitrag
mit Sprache und Denken, also mit Verhalten von Menschen befasse,
bleiben im weiteren die nicht-lebenden gegenständlichen
Formen ausgeklammert.
29
»Der Gegenstand einer
linguistischen Theorie ist in erster Linie ein idealer Sprecher-Hörer,
der in einer völlig homogenen Sprachgemeinschaft lebt, seine
Sprache ausgezeichnet kennt und bei der Anwendung seiner Sprachkenntnis
in der aktuellen Rede von solchen grammatisch-irrelevanten Bedingungen
wie begrenztes Gedächtnis, Zerstreutheit und Verwirrung,
Verschiebung in der Aufmerksamkeit und im Interesse, Fehler (zufällige
oder typische) nicht affiziert wird.« Noam Chomsky »Aspekte
der Syntax-Theorie«, Frankfurt/M 1978, S. 13.
30
Jacques Derrida »Die
Einsprachigkeit des Anderen oder die Prothese des Ursprungs«
in: Haverkamp (Hg.) »Die Sprache der Anderen«, Frankfurt/Main
1997, S. 15-41, und Jacques Derrida »Le monolinguisme de
l'autre ou la prothèse d'origine«, Paris 1996.
31
Der volle Text der beiden
Stellen lautet: »À l'intérieur de cet ensemble,
lui-même privé de modèles d'identification
facilement accessibles, on peut distinguer l'un des sous-ensembles
auquel j'appartenais jusqu'à un certain point.«
(Derrida, Monolinguisme:87) und »Im Inneren dieses Ganzen,
das selbst nicht über einfach erreichbare Identifikationsmodelle
verfügte, kann man einen Teilbereich unterschieden, dem
ich selbst angehörte.« (Derrida, Einsprachigkeit:30)
- Mit diesem Beispiel ist keine Kritik an der Übersetzung
beabsichtigt. Schließlich könnte ja auch Derrida selbst
seine Wortwahl bei der Redaktion des Buches geändert haben.
32
Soziales und Individuelles
als Getrenntes, einander Ausschließendes, zu konzeptualisieren,
basiert auf einem Denkfehler, der unbedingt korrigiert werden
muß. Dies ist eines der Hauptanliegen aller wissenssoziologischen
Arbeiten von Norbert Elias.
33
Jean Paul Sartre »Die
Wörter«, op. cit., Seite 48.
34
Die Vorstellung, daß
Hören ein passiver Vorgang ist, hat zu einer großen
Zahl von Denkfehlern geführt. Auch Hören ist - selbst
wenn das Gehörte sozusagen "passiv" aufgenommen
wird - kein passiver sondern ein aktiver Vorgang, bei dem, vom
Moment des Eintreffens der Lautmuster an, Eintreffendes verarbeitet,
mit anderem verbunden, selektiert und verändert wird.
35
Eine vielfach bewährte
Prozedur, geeignete Beispiele zu finden, ist die parallele Lektüre
von Originaltexten und deren Übersetzungen.

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